Musik
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Hörst du drei oder vier Lieder mit mir?

Nahaufnahme eines Schallplattenspielers

»Musik ist wie ein alter Fre­und, der keine Fra­gen stellt«, hat Nel­ly Fur­ta­do mal in einem Inter­view mit der Süd­deutschen Zeitung gesagt. Ein wun­der­bar­er Satz. Und vier dieser alten Fre­unde will ich Euch heute vorstellen, so wie es auch Asal­lime getan hat. Und so, wie Ihr es vielle­icht auch noch tun werdet?

Marius Müller-Westernhagen: »Wir waren noch Kinder«

»Es dauerte zwei Jahre, dann war es aus / Ich flog von der Schule, du liebtest Klaus / Heute weiß ich kaum noch, wie dein Gesicht aus­sah / Die Zeit fraß meine Sehn­sucht, wie die Geier ihren Aas«

Hörst du drei oder vier Lieder mit mir?

In ein­er der Kisten, in denen ich Erin­nerungsstücke, Postkarten und Sou­venirs aufhebe, liegt ein kleines, unschein­bares Bün­del Papi­er, zusam­menge­hal­ten von einem Stück Schnur. Es sind 70, vielle­icht 80 Seit­en, gefal­tet und beschriftet mit zwei Namen: dem von V. und meinem. Auf ihnen ste­ht unsere Geschichte — oder zumin­d­est ein Teil davon, das, was wir uns geschrieben haben über ein paar Monate. Ich weiß noch, dass ich Jahre später mal bei ihr vor der Tür stand, eine fixe Idee, um zu sehen, ob noch etwas übrig ist von den großen Gefühlen, von der ersten Liebe. Und ich weiß auch, dass ich wenige Minuten später wieder im Bus saß, ent­täuscht und ernüchtert.

Lange lag in ein­er dieser Kisten auch ein altes, leiern­des Mix­tape, auf der »Das erste Mal« stand. Wenn ich heute diese Musik höre, denke ich an unendliche Aut­o­fahrten, an die hol­ländis­che Gren­ze, an lange braune Haare, zu denen mir das Gesicht fehlt. Nicht mal den Namen des Mäd­chens weiß ich mehr. Ich weiß nur noch, dass sie sich­er zehn Jahre älter gewe­sen sein muss. Und ich erin­nere mich, dass ich fasziniert von ihr war, sie roch nach großer weit­er Welt, nach Zigaret­ten und nach Erwach­sen­wer­den. Und am Ende der Fahrt, auf der wir »Wir waren noch Kinder« sich­er 20 Mal gehört hat­ten, drück­te sie mir das leiernde Tape in die Hand.

Insofern haben V. und dieses Mäd­chen eins gemein­sam: Bei­de haben mir ein Geschenk gemacht. Bei V. waren es, kurz bevor ich die Schule ver­ließ, all meine Liebes­briefe an sie, die bis dahin vielle­icht in ein­er der Kisten gele­gen hat­ten, in denen sie Erin­nerungsstücke, Postkarten und Sou­venirs aufbewahrte.

Dave Matthews Band: »When The World Ends«

»When the world ends, col­lect your things, you’re com­ing with me / When the world ends, you tuck­le up your­self with me / Watch it as the stars dis­ap­pear to noth­ing / The day the world is over, we’ll be lying in bed«

Hörst du drei oder vier Lieder mit mir?

Ein schiefes Grin­sen, ein schön gedrehter Joint, tief­schwarze Wim­pern, der Hund auf der Treppe. Ein per­fek­ter Pass beim Kick­ern, Wodka‑O aus Flaschen, von der Dachter­rasse weht der Geruch von frisch gewasch­en­er Wäsche here­in, Stim­mengewirr auf der Straße. Wir spie­len Flunky­ball im Hof­garten und das Leben fühlt sich an wie ein end­los­er Som­mer. Wir haben keine Fuffies, um sie durch den Club zu schmeißen, aber unseren Club, den haben wir.

Wir kön­nen nicht alle Dichter sein, und wir sind nicht alle glück­lich. Wir kön­nen nicht alle reich wer­den und manche von uns gehen zu früh. Wir wer­den nicht alle unsere Träume erfüllen und nicht alle von uns träu­men noch. Doch wir alle wer­den den Tag, an dem die Welt unterge­ht, im Bett ver­brin­gen, in der Hand einen schön gedreht­en Joint und einen Wodka‑O, in der Nase den Duft von frisch gemähter Wiese und Straßen­lärm im Ohr. Wir wer­den es uns gemütlich gemacht haben mit so vie­len Kissen wie möglich und diesen Tag feiern. Die Wim­pern getuscht und das schön­ste Lächeln im Gesicht. Und vielle­icht, wenn wir Glück haben, ist es Sommer.

Hubert von Goisern: »Heast as nit«

»Heast as nit / Wia die Zeit verge­ht? / Gestern nu / Ham d’Leut ganz anders g’redt / Die Jun­gen san alt word’n / Und die Altn san g’s­torbn / Und gestern is› heit word’n / Und heit is› bald morg’n«

Hörst du drei oder vier Lieder mit mir?

Ich kann nicht sehen, wie das Gras wächst oder wie die Welt sich dreht. Ich kann nicht riechen, wie die Liebe riecht oder die Angst. Und den Geschmack von Frei­heit und Aben­teuer, den kenne ich nur aus dem Fernse­hen. Aber wie die Zeit verge­ht, das höre ich — jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Manch­mal rauscht sie in meinen Ohren, laut wie ein Wasser­fall, manch­mal schle­icht sie mit schlur­fend­en Schrit­ten neben mir her. Manch­mal flüstert sie mir leise etwas zu, so leise, dass ich mich anstren­gen muss, sie zu ver­ste­hen, und manch­mal hüpft sie, fröh­lich, aus­ge­lassen, um mich herum.

Ein Mai-Abend auf dem Rothaarge­birge. Es ist dämm­rig und warm, die Zelte um uns herum sind hell erleuchtet, die Stim­mung ist gelöst, Gläs­er wer­den gefüllt und geleert, der Wind stre­icht über die Bäume. Und dann ste­ht da dieser Mann auf der Bühne, die Füße in aus­ge­trete­nen Wan­der­stiefeln, die Haare zerzaust, den Blick im Nir­gend­wo. Und als er anfängt zu sin­gen, vom Gestern und von den Jun­gen und den Alten, da ist selb­st die Zeit für einen Moment ruhig. Ganz still sitzt sie auf mein­er Schul­ter, die Augen geschlossen wiegt sie sich mit mir im Takt und lässt die Beine baumeln. Hörst du es nicht? Wie die Zeit vergeht?

Creedence Clearwater Revival: »Long As I Can See The Light«

»Put a can­dle in the win­dow / Cause I feel I’ve got to move / Though I’m going, going, I’ll be com­ing home soon / Long as I can see the light«

Hörst du drei oder vier Lieder mit mir?

Es ist der Moment, in dem ich merke, dass mein Fer­n­weh eigentlich Heimweh ist. Dass meine Unruhe ein ständi­ges Ankom­men­wollen ist. Stell eine Kerze ins Fen­ster, damit ich weiß, dass ich da bin. Stell mir einen Stuhl auf die Veran­da, damit ich mir den Abend anschauen kann, mit seinem Licht und seinen Far­ben. Oder den Mor­gen. Oder den hel­l­licht­en Tag. Es gibt nicht viele solch­er Orte, an denen ich zu mir komme. Dafür gibt es zu viele Orte, an denen ich mich und den Faden meines Lebens ver­liere. Maail­maa on jos jon­nekin päin, sanoi akka, kun kepil­lä saunan­luukus­ta koit­ti. Wie ist die Welt doch groß und weit, sprach die Alte, als sie einen Stock zur Saunaluke hinaussteckte.

Doch es gibt eine Art zu reisen, für die es kein Tick­et braucht, keinen Kof­fer. Musik ist wie ein alter Fre­und, der keine Fra­gen stellt. Ein Fre­und, der dich über­all hin mit­nimmt. Er geht mit dir, soweit der Weg auch sein mag, und er stellt dir eine Kerze ins Fen­ster. Damit du weißt, dass du angekom­men bist.

7 Comments

  1. Musikalisch nicht in allen Fällen mein Ding, aber das ist ja auch toll an solch ein­er Rei­he, Lieder anders ken­nen­zuler­nen. Aber deine Texte… ein­er schön­er als der andere. Nach dieser Veran­da suche ich noch, sie wirk­te plöt­zlich ganz nah und greif­bar. Vie­len Dank, ein wun­der­schönes Mixtape!
    Und die Fotos, sind die von dir? Das frage ich mich immer wieder bei deinen Texten.
    Sobald ich Zeit habe, sam­mele ich alle Beiträge, die in den let­zten Tagen auch von anderen gemacht wur­den und stelle wieder eine Lin­kliste zusammen.

    • Danke, liebe Asal. Wenn Du die Veran­da gefun­den hast, sag Bescheid. ich komm gerne auf einen Kaf­fee vor­bei. Was die Fotos ange­ht: Lei­der sind die bei diesem Post nicht von mir, son­dern von ein­er dieser Seit­en hier. Ich komme viel zu sel­ten dazu, Fotos zu meinen Tex­ten selb­st zu schießen. Sollte ich öfter tun, aber die Zeit, die Muße. Sie wis­sen schon … ^^

  2. Sehr schön. Alles hat seine Zeit, und welch ein Glück, wenn die Musik die Erin­nerung an die Gun­st der Stunde bewahren kann.

    • Ja, alles hat seine Zeit. Und so gerne ich auf diese Lieder und ihre Erin­nerun­gen blicke, freue ich mich doch fast noch mehr auf die Lieder, die noch kom­men werden. ;-)

  3. Ana Cristina Rocha Almeida says

    Ein wun­der­voller Text. Ich liebe Musik und habe ver­schiedene Vor­lieben in der Musik und doch gibt es kaum einen Song, der mich nicht irgend­wohin reisen lässt, v.a. in die Ver­gan­gen­heit, aber nicht nur. Und es ist toll, denn man ist frei und man fühlt sich lebendig und jung. Gibt es eine bessere Reise als diese «für die [man] kein Tick­et braucht, keinen Koffer.»?

    • Danke Dir! Genau darüber denke ich ger­ade sehr viel nach. Diese Reise ist wun­der­bar, auf kein­er anderen ist man so frei. Aber sie hin­dert einen vielle­icht auch an den echt­en Reisen im Leben, die mit den Ent­behrun­gen und den weit­en Ent­fer­nun­gen. Die aber auch mit den neuen Erfahrun­gen. Nicht denen, die man schon mal gemacht hat.

  4. Anna says

    Richtig stark!
    «Es ist der Moment, in dem ich merke, dass mein Fer­n­weh eigentlich Heimweh ist. Dass meine Unruhe ein ständi­ges Ankom­men­wollen ist.» trifft es auf den Punkt. Die sehn­süchtige Illus­sion der ziel­gerichteten Flucht. 

    (Und in meinem Kopf zumin­d­est: Ein weit­eres Lied! »You are the fugi­tive, but you don’t know what you’re run­ning from« https://www.youtube.com/watch?v=e3FK1x38zco )

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