Was wären Sie bereit, für eine gute Geschichte zu geben? Diese Frage habe ich mir vor kurzem stellen müssen, als ich das Abenteuer gewagt habe, in Havanna laufen zu gehen.
»Running on vacation has always been a way for me to explore places I might not otherwise get a chance to see.«
Lela Moore: »Running in Cuba«
Wer für ein paar Kilometer auf der Malecón seine Schuhe schnürt, muss höllisch aufpassen. Nicht etwa, weil Kuba ein so gefährliches Land oder Havanna eine so gefährliche Stadt wäre — im Gegenteil. Doch die weltberühmte Uferstraße der kubanischen Hauptstadt hat es in sich, im wahrsten Sinne des Wortes: Dutzende Löcher, manche kreisrund oder quadratisch, als warteten sie noch auf ihren Deckel, manche scharfkantig und tief wie Gletscherspalten, reihen sich auf den acht Kilometern aneinander. Daneben haben die salzige Gischt und der Wind die Gusssteinplatten teils so zerfressen, dass nur noch gratige Kiesel aus dem Boden ragen, scharf und spitz. Wer hier stolpert, nimmt sich ein blutiges Andenken mit.
Die Malecón teilt sich Havanna mit der Straße. Von links drückt die tangschwangere Luft von den Klippen herauf, von rechts halten Diesel und Zweitakter dagegen. Eine atemberaubende Mischung. Die Umgebung: eine ebenso wilde Mischung. Reiterstatuen säumen das Ufer, dahinter eine Betontribüne, an einer Straßenecke eine von Tausenden Baustellen — ein Neubau, ein Hotel, das die kleinen Wohnhäuser daneben noch gebrechlicher aussehen lässt mit ihren bröckelnden Fassaden, den notdürftig vernagelten Fenstern und windschiefen Türen. Aber vor den Fenstern hängen Leinen mit Wäsche. Hinter den Läden ist Leben.
Die Sohle abgenutzt, die Seiten aufgerissen, das Schwarz nur noch ein blasses Grau
Und dann ist er plötzlich neben mir. Ich habe schon von ihm gelesen, als ich mich auf diese Reise vorbereitet habe. In der New York Times hat Lela Moore vor zwei Jahren von ihren Lauferfahrungen auf Kuba berichtet und dabei auch von Andrés Carrión González, einem jungen Langstreckenläufer: »The tap on my shoulder came about 20 minutes into my first run along the Malecón, Havana’s seawall. ›Maratón? Maratón?‹ Was I training for a marathon? The question came from a runner in his early 20s, wearing shorts and a racing singlet. My new Cuban friend’s name, I learned, was Andrés Carrión González, and he told me he was training for the half-marathon held in Havana each November. His best time in the half, he said, was 1 hour 10 minutes; did I think he would do well? I told him, in my halting Spanish, that I thought he’d do very well.«
»The Malecón is many things: physical buffer against the erosive force of the water, fisherman’s paradise, couples’ rendezvous spot. It’s also a popular place for runners. For eight unbroken kilometers (five miles), you can run on a stretch of sidewalk bounded on one side by the water of Havana Bay, which extends out to the point where the Gulf of Mexico and the Atlantic Ocean meet.«
Lela Moore: »Running in Cuba«
Mich hat diese Geschichte fasziniert, doch als ich an diesem Morgen meine erste Runde auf der Malecón drehe, bin ich zu beschäftigt damit, all diese Eindrücke zu verarbeiten, um an Andrés zu denken. Doch er kommt direkt auf den Punkt. Er sei Kubas schnellster Halbmarathonläufer, ob ich auch für ein Rennen trainieren würde, woher ich denn käme und was meine Schuhe gekostet hätte, will er wissen. Alles in einem Satz. Ich erinnere mich wieder. »He admired my sneakers, brand-new Nikes that I’d bought for the trip because they were more lightweight than my usual pair«, schrieb Lela Moore. »He told me that in Cuba you cannot buy new running shoes, that they simply are not available.«
Ich schaue an Andrés herab, der die ganze Zeit ein fröhliches Lachen im Gesicht trägt. An seinen Füßen aber trägt er das genaue Gegenteil, sie stecken in einem Paar Schuhe, die vielleicht mal Laufschuhe gewesen sein mögen — und sie sehen exakt so aus, wie Lela sie beschrieben hat. Die Sohle abgenutzt, die Seiten aufgerissen, das Schwarz nur noch ein blasses Grau. Wir bleiben bei meinen Schuhen, das Thema lässt ihn nicht los. Ob er sie mal ausprobieren dürfe, fragt er. Oder will er gerade wissen, ob ich sie ihm schenke? Ich versuche rauszukriegen, was genau er meint, doch sein Englisch ist so bröckelig wie die Straße, auf der wir unterwegs sind. Nach ein paar Minuten aber bin ich sicher: Er hat gefragt, ob ich ihm meine Schuhe schenke. Ich komme ins Grübeln. Der Durchschnittslohn auf Kuba liegt zwischen 300 und 400 Dollar. Ein halbes Monatssalär müsste ein Kubaner also für meine Asics hinblättern — vorausgesetzt, man bekäme sie hier irgendwo.
Auf der anderen Seite: Was wären Sie bereit, für eine gute Geschichte zu geben? Und die Geschichte, dass Kubas schnellster Halbmarathonläufer mit meinen Trainingsschuhen unterwegs ist, sie wäre definitiv eine gute Geschichte. Außerdem schlägt er einen Tausch vor: Er würde mir ein T‑Shirt mitbringen, ein Laufshirt von einem seiner letzten Rennen. Kein schlechtes Souvenir, denke ich, aber irgendwas in mir sagt auch: Überleg dir das gut. Du kennst diesen Jungen gar nicht. Der kann dir alles Mögliche erzählen.
Ein grosses, lautes Miteinander
Am nächsten Morgen bin ich wieder auf der Malecón unterwegs — ein bisschen Tempo machen, und ein paar Fotos. An mir vorbei kommen ein paar Touristen auf ihrer Morgenrunde, einige wenige Kubaner, die irgendwo ein paar Laufschuhe ergattert haben, und gemeinsam ziehen wir unsere Bahnen, vorbei an Fischern und Statuen und Häusern und dem endlosen Strom der qualmenden Autos. Die Erfahreneren laufen auf der Straße, auf dem Asphalt, der erstaunlich wenig Schlaglöcher hat. Und die Autos? Machen einen entspannten Bogen um alles, um Läufer, um die vereinzelten Radfahrer oder Pferdefuhrwerke, um Baustellen. Ein großes, lautes Miteinander.
»I looked down at his feet. The soles of his shoes were worn flat, the seams frayed and threadbare, the color faded to a dull gray. He told me he hoped that running shoes would become more available as the United States and Cuba improve relations. I told him that I hope so, too.«
Lela Moore: »Running in Cuba«
Zwei Tage vor unserer Abreise, ich will die Malecón gerade überqueren, um zu unserem Hotel zu kommen, steht er wieder neben mir. Das gleiche breite Lachen im Gesicht, die gleichen grauen Schuhe an den Füßen. Ob ich mich erinnere, fragt er. Natürlich, sage ich — und es dauert keine Minute, da sind wir wieder beim Thema. Wann ich denn abreisen würde, ob wir uns an dem Tag hier treffen könnten, um Schuhe gegen T‑Shirt zu tauschen, um wie viel Uhr? Es fühlt sich nicht ganz richtig an, aber ich sage zu. Um acht Uhr vor dem Hoteleingang — und wir könnten ja gleich die erste Runde gemeinsam drehen, schlage ich vor. Wir geben uns die Hand.
Zwei Tage später sitze ich zu Hause auf der Treppe, es ist Montagmorgen, und ich mache mich fertig für meinen ersten Lauf nach dem Urlaub. An den Füßen: die Schuhe, die Andrés so gerne gehabt hätte. Er ist nicht gekommen am Morgen meiner Abreise, eine Viertelstunde habe ich auf ihn gewartet, aber es war nichts zu sehen von seinem breiten Lachen. Doch die Geschichte, dass der schnellste Halbmarathonläufer Kubas fast in meinen Laufschuhen trainiert hätte, die habe ich trotzdem mitgenommen auf gewisse Art und Weise. Und ihm nichts dafür dagelassen.
Am Abend lese ich mir noch einmal Lelas Artikel durch, recherchiere ein bisschen weiter über Kubas Laufszene, frage mich, wie so ein Marathon in Havanna wohl sein mag — in der Hitze, mit all den Abgasen, mit den Schlaglöchern. Ich durchforste ein bisschen die Archive, schaue mir die offiziellen Resultate an, Marathon, Halbmarathon, aber ein Andrés Carrión González taucht nirgendwo auf. Mit wem bin ich da bloß gelaufen auf der Malecón in Havanna?
Sieht aus, als habe ich nur die halbe Geschichte mitgenommen.