Reise, Reise
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The San-Francisco-Chronicles

Die Golden-Gate-Bridge in San Francisco bei Nacht

Ich habe fast ein ganzes Jahr gebraucht, um diesen Text schreiben zu kön­nen. Fast ein Jahr, 35.000 Kilo­me­ter und eine Schublade voller Entwürfe. Fast ein ganzes Jahr kon­nte ich nicht über eine Stadt schreiben, die schon so vie­len Men­schen den Kopf ver­dreht hat, eine Stadt, die für manche das heilige Jerusalem der Mod­erne ist. Sie pil­gern hier her, ich habe schon bei ihrem Anblick aus der Ferne ständig blinzeln müssen. Weil diese Stadt blendet. Und weil diese Stadt von einem kle­bri­gen Dun­st umgeben ist, der einem die Sinne raubt.

An dem Tag, an dem ich San Fran­cis­co lieben lerne, ste­he ich mor­gens eine Stunde vor ein­er Bäck­erei an, um Brot zu kaufen. Bis zu diesem Tag haben wir es uns nicht leicht gemacht, haben uns eher belauert als begrüßt. Wir hat­ten unsere schö­nen Momente, aber auch Tage voller Ver­loren­heit, Zweifel und Wider­willen. An diesem Mor­gen aber begreife ich, dass San Fran­cis­co ohne all das nicht über­leben würde. So wie die Stadt ohne die Zehn­tausenden Ein­wan­der­er, die man hier ille­gal nen­nt, nicht funk­tion­ieren kann, weil sie ihr Essen kochen und ihren Dreck wegräu­men, braucht es auch Men­schen, die 4,20 Dol­lar für ein Crois­sant aus­geben, während vor der Tür Obdachlose in ihrem Erbroch­enen liegen nach ein­er Nacht ohne echt­en Schlaf.

»Every great city is like a mem­o­rable cas­soulet, con­tain­ing secret ingre­di­ents that give it a unique flavor.«
Andrea Pon­si: »San Fran­cis­co — A Map of Perceptions«

Am ersten Abend in dieser Stadt muss ich mich zwin­gen, über­haupt aus dem Haus zu gehen. Dabei scheint draußen noch die Sonne, ein milder Wind weht um die Häuser, es riecht nach Früh­ling und frisch gemahlen­em Kaf­fee und mexikanis­chem Essen und im West­en glaube ich, das Meer zu hören. Von einem Hügel aus blicke ich über einen Park auf die Hochhäuser, die im Abendlicht leucht­en — und ver­suche zu verstehen.

Eine Stadt, in der es kaum einen freien Blick gibt

Doch da ist dieses Unbe­ha­gen, das sich wie ein kleines, hässlich­es Insekt im Magen zusam­men­rollt beim Anblick der morschen Häuser und geschun­de­nen Men­schen. Da ist der Abscheu vor all den Gerüchen, die durch jede Straße und jeden Hin­ter­hof ziehen, nach Gras und Essen und Schweiß und Urin. Da ist der Wider­willen gegen all das Geplap­per und den Lärm und das Geschrei der­jeni­gen, die hier nicht ihr Herz ver­loren haben, son­dern ihren Ver­stand, die durch die Straßen irren und kein Ziel haben, die mor­gen früh vor ein­er Bäck­erei aufwachen in ihrem eige­nen Erbroch­enen, in der Men­schen 4,20 Dol­lar für ein Crois­sant ausgeben.

Sie wachen auf in ein­er Stadt, in der es kaum einen freien Blick gibt. Über­all ste­hen Häuser und Hügel und Bäume im Weg, es ist ein ständi­ges Auf und Ab zwis­chen den Schlucht­en und ent­lang der Straßen. Sie wachen auf in ein­er Stadt, in der das Gras nicht ein­fach nur grün und der Him­mel nicht ein­fach nur blau ist. San Fran­cis­co ist eine über­schmink­te Diva, die mit überze­ich­neten Far­ben, mit frisch gestrich­enen Häusern und teuren Autos von ihren Wun­den und Nar­ben ablenkt, die umso heller leucht­en muss, als ihre Seele dunkel ist.

Wer hier landet, muss ankommen oder zugrundegehen

The San-Francisco-Chronicles.
Und jet­zt sitze ich hier und sie fehlt mir, die Schöne. Mir fehlen ihre Wege und Gerüche und das Rauschen des Paz­i­fiks am Abend. Mir fehlen ihre Blu­men und Bäume und Wiesen und die Holzhäuser der Mis­sion und die Wolkenkratzer unten am Fähran­leger. Mir fehlt das beängsti­gende Gefühl, in ein­er Stadt zu sein, in der alles möglich ist.

»The sun­sets are beau­ti­ful beyond the win­dows of the beau­ti­ful hous­es; the fire­places are burn­ing in the well-appoint­ed liv­ing rooms. Well-tend­ed are the flow­ers in the yards, pol­ished the Jaguars and BMWs in the garages.«
Andrea Pon­si: »San Fran­cis­co — A Map of Perceptions«

Mir fehlt die Banal­ität der großen Ideen, die hier geboren wer­den und der Schweiß, der durch die Lofts und Büroeta­gen weht, in denen auf Biegen und Brechen die Zukun­ft entste­hen soll. Mir fehlt das Meer, an dessen Ufer man zu ver­ste­hen begin­nt, wie Men­schen an ein Ende der Welt glauben kon­nten, über dessen Rand der Ozean ins unendliche Schwarz hin­ab­stürzt. Von hier gibt es keine neuen Ziele mehr. Wer hier lan­det, muss ankom­men oder zugrundegehen.

Ich habe fast ein ganzes Jahr gebraucht, um diesen Text schreiben zu kön­nen, und jet­zt sitze ich hier und sie fehlt mir, die Schöne. Doch wenig­stens weiß ich endlich, warum. Ich mache mir Sor­gen. Ich mache mir Sor­gen um eine umschwärmte Diva, die stolz und mit aufge­set­zter Fröh­lichkeit ver­sucht zu über­leben. Sor­gen um eine Diva, die jeden Abend auf die Bühne muss ins grelle Schein­wer­fer­licht, die Fal­ten über­schminkt, nach Patschuli und Zed­ern duf­tend, und die jedem, der sie da oben sieht, den Kopf ver­drehen kann. Und die, wenn sie sich zur Ruhe legt für die weni­gen stillen Momente jede Nacht, vom Meer träumt, davon, kein neues Ziel mehr haben zu müssen.

Mach’s gut, Du Schöne. Pass auf Dich auf.

2 Comments

  1. Lisa Rank hat mal in einem Blog­post, der inzwis­chen lei­der offline ist, geschrieben, dass ihr Reisen immer eine Weile brauchen, bis sie einen Platz in ihr gefun­den haben. Ich bin froh, dass es dir auch so geht (mir näm­lich auch) und dass du den Text trotz­dem geschrieben hast, obwohl es schon so lange her ist (das hält mich manch­mal ab, wie dumm). Er ist näm­lich trotz­dem noch sehr war, und über­haupt auch sehr schön! Danke.

    • Ich hab schon viel zu viele Entwürfe für Blog­posts wieder gelöscht, weil ich dachte, sie liegen schon zu lange rum. Meis­tens habe ich es danach irgend­wann bereut. Seit dem ver­suche ich etwas geduldiger zu sein mit dem Schreiben. Schön, wenn es sich gelohnt hat. :-)

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