Vertrauen ist für mich der »zentrale Eckpfeiler«1 des Internets. Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, hier gleich zu Anfang etwas klarzustellen: Ich hasse Blogs. Ich hasse auch Tagebücher. Sie, werte Damen und Herren von der NSA, hätten das eh bald rausgefunden, ich weiß, aber meine Leser*innen vielleicht nicht. Um nun dieses Hassen etwas einzuordnen und nicht als zu pauschal stehen zu lassen, ein paar erklärende Worte.
Natürlich hasse ich Blogs nicht per se, genauso wenig wie Tagebücher. Beides lese ich gerne, und in eins von beiden schreibe ich seit 2005 mehr oder weniger regelmäßig hinein. Soweit, so gut, wäre da nicht diese eklatante Schwachstelle: das Davor und Danach — und das Dazwischen. Ich weiß, Blogs und Tagebücher können nichts dafür, aber ist es nicht furchtbar, dass da immer etwas fehlt? Ist es nicht eine schreckliche Vorstellung, dass niemand ein Tagebuch schreiben kann, das vollständig ist? Das alles erzählt? Vom ersten bis zum letzten Tag?
»Sonntag, den 14. Mai 1865. Afternoon we are gefahren upon the Gondel of Rüder. Auf dem Rückwege put we Werner out on the land.«
Richard Bühle: »Mein Tagebuch«
Welche Form einer Zwangsstörung das ist, weiß ich auch nicht, da müsste ich mal mit meiner Therapeutin reden. Aber ich weiß, dass Richard Bühle und ich aus genau diesem Grund ziemlich beste Freunde geworden wären. Auch Bühle, der 1852 in Leipzig geboren wurde und später Journalist und Chefredakteur der Leipziger Neuesten Nachrichten werden sollte, hat — so mutmaße ich — diese Störung gehabt. Nicht umsonst beginnt sein (übrigens sensationelles) Tagebuch, das er im Alter von zwölf Jahren (!) geschrieben hat, 1864 — »in der Nacht des 31. Dezember Punkt 12 Uhr« — und endet am 31. Dezember 1865. Fast an jedem Tag hat er einen Eintrag geschrieben, und wenn er nur »Nichts« notierte. Viel beeindruckender aber ist, wie sauber er sich seine Zeitspanne abgesteckt hat — ist das doch der einzige Strohhalm, an den wir uns klammern können bei dem Versuch, unser vagabundierendes Leben aufzuschreiben. Und so schließt sein erster Eintrag denn auch mit einem selbstzufriedenen »Prosit Neujahr!«. Glücklicher Richard.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Tagebücher ich in meinem Leben schon angefangen habe. Vielleicht waren es auch bei Richard Bühle mehr als nur das eine. Blogs zumindest waren es vier, bei mir — das hier ist streng genommen das fünfte. Und ich muss mich schon sehr zusammenreißen, nicht bis zum 31. Dezember 2014, Punkt 12 Uhr, zu warten. Obwohl das natürlich auch nichts bringen würde — das Davor fehlte ja trotzdem. Und das Danach würde irgendwann auch fehlen. Also, was soll’s. Gehen wir’s an. Prosit Richard.
1 Vgl. Kaehlbrandt, Roland: Deutsch für Eliten, Stuttgart 1999, S. 36