Der Journalismus von heute ist krank, »auf hohem Niveau«. Er ist »im Eimer«, »korrupt« und »hochgradig manipulativ«. Er ist »eine Haltung«, »die zivilste Form des Widerstands« und »abhängig von seinen Lesern« — seine Zukunft ist ein Quiz. Er ist »der beste, den es je gab«. 10 Dinge, die ich dem Journalismus (in Deutschland) wünsche.
1. Mehr Optimismus
Ja, die Tage der gedruckten Tageszeitung sind gezählt. Und ja: Radio und Fernsehen müssen sich mit YouTube oder Streaming-Diensten gegen eine neue Konkurrenz behaupten. Medien verändern sich — das haben sie schon immer getan. Doch der Journalismus an sich ist nicht gefährdet. Gefährdet ist höchstens sein Optimismus.
2. Mehr Greenberg
An der renommierten Brown-University in Providence leitete der Pulitzer-Preis-Träger Paul Greenberg 1988 ein Seminar, in dem es unter anderem um die Bedeutung von Ethik und Moral für den Journalismus ging — nachzulesen in einer Kolumne, die daraus für die Fort Scott Tribune entstanden ist. »I know of no subject, in truth, save perhaps baseball, on which the average American newspaper, even in the larger cities, discourses with unfailing sense and understanding«, zitiert Greenberg einen Artikel aus dem Atlantic von Henry Louis Mencken aus dem Jahr 1914 und fügt hinzu: »Of course things have changed since 1914. Now we can’t even get baseball right.« Viel wichtiger, wenn auch nicht so unterhaltsam, ist jedoch das, was Greenberg selbst »the best piece of ethical advice I ever received about journalism« nennt: eine Passage aus dem Talmud, genauer aus den Pirke Avot — den Sprüchen der Väter: »Love creative work. Do not seek dominance over others. Avoid intimacy with the ruling authorities.« Dem wäre nichts hinzuzufügen.
3. Mehr Beweglichkeit
Die meisten Verlage in Deutschland waren einmal das, was wir heute Startups nennen. Kleine Unternehmen, deren Gründern (meistens eher Gründer) die Zeichen der Zeit erkannt oder schlicht ihre Chance genutzt haben. Besonders im Nachkriegs-Berlin gehörte eine ordentliche Portion Beweglichkeit — nein, sagen wir lieber Wendigkeit — dazu, sich mit Journalismus über Wasser zu halten (Wer sich für diese Epoche interessiert, dem empfehle ich das fantastische Buch »Das war der Frühling von Berlin« von Hans Borgelt. Antiquarisch ist es noch zu bekommen). In diese Zeit gibt es kein Zurück — und das sollte auch niemand wollen —, doch aus den Entscheidungen früherer Tage können wir viel lernen. Wie auch aus den Entscheidungen, die heute erfolgreiche Medienunternehmen hervorbringen — von BuzzFeed über The Daily Dot bis Vice.
4. Mehr Friseurbesuche und Taxifahrten
In seiner Kolumne »Crank’s Corner« schrieb der indische Journalist K. Balakumar im März einen wundervollen Text mit dem Titel »Journalism needs better barbers«, in dem er erläutert, wie die Qualität der politischen Berichterstattung in Indien parallel zur Qualität der etablierten Quellen gesunken sei. Eine dieser Quellen: Friseursalons. »Not long ago, any cub reporter, aspiring to make it big as a political correspondent, learnt all the important lessons of the trade at that Advanced Institute of Psephology and Election Analysis: The local barber shop.« Eine weitere Quelle, um zu überprüfen, wie »das Herz der Demokratie« schlage: Taxifahrer. Dem Volk aufs Maul geschaut, könnte man auch sagen. Für mehr Friseurbesuche und Taxifahrten. Damit wir häufiger über die Menschen nachdenken — und nicht über die Geschichten der Konkurrenz.
5. Mehr Snowdens
Die Bedeutung von Menschen, die Informationen im Schutz der Vertraulichkeit und/oder Anonymität weitergeben können, war und ist immens — und wohl kaum ein Name ist derzeit stärker mit diesem Thema verknüpft als der Edward Snowdens. Doch in den USA scheint die Bereitschaft, sich auf solche Quellen einzulassen, zu sinken. So schrieb der Kommentator und Radiomoderator David Sirota im Mai: »As IU researchers note, ›the percentage of US journalists endorsing the occasional use of ‚confidential business or government documents without authorization‘ dropped significantly from 81.8 percent in 1992 to 57.7 percent in 2013.‹« Bedenken ähnlicher Art gibt es auch in Deutschland, und von den vor einiger Zeit gestarteten Leaking-Plattformen, die das ändern wollten, sind nicht wenige schon wieder eingestampft. Immerhin: Etliche sichere Briefkästen gibt es noch — etwa beim Spiegel, beim Stern oder der Zeit, die den Open-Source-Code ihres Briefkastens sogar auf GitHub anbietet.
6. Mehr Gelassenheit
Journalisten, die in aller digitalen Öffentlichkeit ihre Schlammschlachten mit Prominenten austragen, die über Fehltritte von Kollegen herziehen, die sich zu vorschneller Meinung, zu Polemik, zu Hass hinreißen lassen, weil sie sich nicht beherrschen können oder glauben, es sei gut für Quote oder Auflage. Alles Dinge, die der Journalismus mit seinem ohnehin arg zerbeulten Image nicht brauchen kann. Was er brauchen kann: einen gelasseneren Umgang mit solchen Situationen — und Nutzern, die so gelassen sind, sie zu ignorieren.
7. Bessere Informationen
Nach wie vor ist das, was tagtäglich als Pressemitteilungen getarnt in den E‑Mail-Postfächern von Journalisten landet, oft eine Frechheit. Dabei ist es eigentlich gar nicht so schwer, wie diverse Umfragen in den vergangenen Jahren gezeigt haben: Vernünftige Betreffzeilen, den Text direkt in die Mail packen, Anhänge anbieten und nicht (!) hinterhertelefonieren. Sie arbeiten in der PR und wollen mehr wissen? Suchen Sie doch mal nach »Was Journalisten sich wünschen«.
8. Kraft
»Es wirkt wie im Kino, aber wir wissen: Da sterben Menschen und wir können nichts tun. Außer berichten, immerzu weiter berichten. Nach bestem Wissen und Gewissen.« Diese Sätze notierte Richard C. Schneider, ARD-Korrespondent in Israel, kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Es schwingt eine Menge Verzweiflung mit in seinem Text, schon in der Überschrift »Gegen die Bilder ist unser Text machtlos«. Verzweiflung, aber keine Resignation: »Danach stehen wir wieder auf und machen weiter«, schreibt Schneider auch. Mit Blick auf all die Konflikte dieser Welt wünsche ich Journalisten wie ihm die Kraft, die es für einen Beruf wie diesen manchmal braucht.
9. Mehr Füchse
»Spätestens am Abend des 6. November 2012 kannte jeder Amerikaner, der sich für die Politik in seinem Land interessiert, den Namen von Nate Silver. Der heute 36-jährige Statistiker hatte in seinem Weblog FiveThirtyEight, der von der ›New York Times‹ veröffentlicht wurde, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in sämtlichen 50 Bundesstaaten korrekt vorhergesagt — und zwar großteils schon Wochen zuvor, als die Edelfedern auf den Kommentarseiten der großen Blätter noch von einem völlig offenen Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Barack Obama und Mitt Romney geschrieben hatten.« Beeindruckt? Ich auch. Seitdem betreibt Silver mit seiner Plattform, deren Logo Bezug nimmt auf Archilochos und seine Fabel vom Fuchs und vom Igel, Datenjournalismus par excellence — auch wenn es noch an Standards für dieses neue Genre fehlt. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport — kaum ein Ressort ist vor ihm sicher. Ähnliche Projekte in Deutschland? Noch Fehlanzeige. Hoffentlich nicht mehr lange.
10. Mehr Frauen
Der Journalismus ist eine Branche, in der die Frauenquote gefühlt ziemlich hoch ist. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus — nicht nur in den Führungsetagen. Dabei gäbe es einige gute Argumente, das zu ändern: bessere Witze, kürzere Konferenzen, echter Wettbewerb — um nur drei zu nennen. Die sieben anderen wichtigen Gründe finden Sie hier.
Und Sie? Was wünschen Sie dem Journalismus?