Visionen
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Der Duft von Cool Water und Lederpeitsche

Nahaufnahme eines Lagerfeuers

Ich habe jet­zt eine App, die mich dazu motivieren soll, jeden Mor­gen ordentlich zu früh­stück­en. Oder jeden Son­ntag meine Eltern anzu­rufen. Oder andere wichtige Dinge zu tun. Haupt­sache, regelmäßig. Sie passt gut in ein Leben, das geprägt ist von Rou­ti­nen. Ein­mal die Woche schnei­de ich mir die Fin­gernägel und alle vier Wochen gehe ich zum Friseur. Ich achte darauf, dass meine Schnürsenkel immer ordentlich zuge­bun­den sind, ich trinke viel Tee und wenig Kaf­fee und alle Nase lang mache ich mal etwas Unvorherge­se­henes, damit es nicht allzu spröde zuge­ht in meinem Leben.

»Manche leben mit ein­er so erstaunlichen Rou­tine, dass es schw­er­fällt zu glauben, sie lebten zum ersten Mal.«
Stanis­law Jerzy Lec: »Alle unfrisierten Gedanken«

Ich glaube, ich bin damit ein Parade­beispiel für meine Gen­er­a­tion. Das Pfle­gen von Rou­ti­nen passt zu gut zu einem anderen Trend, den ich seit einiger Zeit für mich ent­deckt habe. Und das, obwohl er nicht ger­ade neu ist. Schon in den 90er-Jahren hat Faith Pop­corn, auf deren Namen ver­mut­lich Mil­lio­nen Frauen auf dieser Welt zurecht nei­disch sind, das »Cocoon­ing« als näch­stes großes Ding aus­gemacht — die Rück­kehr an Heim und Herd und zu Gebor­gen­heit und Idylle. Sie hat nicht Unrecht gehabt, aber selb­st wohl auch nur im Ansatz geah­nt, wie weit das mal gehen würde. Ganze Branchen stellen sich seit eini­gen Jahren darauf ein, dass wir nicht nur gerne zu Hause sind, son­dern auch alles von zu Hause aus machen wollen. Einkaufen, Sport, Kom­mu­nika­tion, Sex. Dass wir daran andere teil­haben lassen und wie selb­stver­ständlich am Cocoon­ing ander­er teil­haben, ist ein hüb­sch­er Trep­pen­witz des tech­nol­o­gis­chen Fortschritts.

Was wir da machen, kön­nte man als »Dig­i­tales Cocoon­ing« beze­ich­nen. Wir wollen uns einigeln in Ruhe und Gebor­gen­heit, in Rou­ti­nen und gemütlichem All­t­ag, in dem es warm ist, aber auch nicht zu warm bitte, in dem gedämpftes Licht scheint und von dem aus wir das Draußen nur als ver­huschte Schat­ten wahrnehmen. Haupt­sache, es gibt WLAN. Auf dem Plas­ma-Bild­schirm knis­tert das dig­i­tale Kam­in­feuer, und am meis­ten freuen wir uns darüber, dass wir dafür nicht mehr vor die Tür müssen zum Holz hacken.

Vielle­icht ist das die Rebel­lion ein­er Gen­er­a­tion, die nie­man­den hat­te, gegen den sie wirk­lich rebel­lieren kon­nte. Schließlich wur­den wir geboren als Mit­glieder von Fähn­lein Fieselschweif, wir sind aufgewach­sen mit dem Marl­boro- und dem Cool-Water-Mann, mit den Halunken vom Beck­’s-Schiff und Ehep­aaren, die so ver­rückt waren, ihren ganzen Früh­stück­stisch in ein Korn­feld zu ver­fracht­en, um dem All­t­ag zu ent­fliehen. Unsere Vor­bilder waren Indi­ana Jones und Steve »The Croc­o­dile Hunter« Irwin — oder wenig­stens Draufgänger wie Guy­brush Three­p­wood oder Lar­ry Laf­fer. Wir mussten uns nicht entschei­den zwis­chen Hip­pie und Yup­pie, zwis­chen weißem Poly­ester-Anzug und Led­er­peitsche. Wir durften alles!

»Vielle­icht hät­ten wir uns einen mar­ket­ing­tauglicheren Namen wie ›Rebell­nomics‹ für die Wirtschaft im rebel­lis­chen Zeital­ter aus­denken sollen.«
Camille de Tole­do: »Good­bye Tristesse«

Ich glaube, ganz kurz haben wir mal gedacht, wir kön­nten uns emanzip­ieren, auch wenn wir nicht wussten, wovon. Mit dem Inter­Rail-Tick­et durch Schwe­den oder per Anhal­ter nach Gen­ua, zu Fuß die Eifel über­queren oder als Au pair nach Neusee­land und ein­fach da bleiben. In solchen Momenten haben wir gespürt, dass uns eigentlich die ganze Welt offen ste­ht. Doch dann haben wir gemerkt, dass all das, die Inter­Rail- und Anhal­ter-Touren und das Wan­dern und Auswan­dern, schon unseren großen Geschwis­ter gemacht haben. Oder noch schlim­mer: unsere Eltern. Vielle­icht haben wir es nicht verkraftet, mit dem Duft von Frei­heit und Aben­teuer großge­zo­gen wor­den zu sein. Und jet­zt sitzen wir hier, in der linken Hand die Fernbe­di­enung und in der recht­en Hand das Smart­phone, und schauen in Apps nach, wie viele Tage am Stück wir schon ordentlich gefrüh­stückt und wie viele Son­ntage am Stück wir bei Mama angerufen haben und wün­schen uns, wenig­stens unser Name wäre so cool wie der von Faith Popcorn.

Übri­gens: Beim The­ma Cocoon­ing lohnt, wie so oft, ein Blick in die Natur. Da gibt es Spin­nen, die ihre Beute fan­gen und ein­wick­eln, um sie später zu fressen, und es gibt Rau­pen, die sich ein­spin­nen, um irgend­wann als Schmetter­ling zu schlüpfen. Aber bitte, ers­paren Sie mir die Pointe. Sie wäre selb­st für gemütliche Stun­den vor dem dig­i­tal­en Kamin ein biss­chen zu kitschig.

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