Horst W. Opaschowski ist so etwas wie der Kurzzeit-Nostradamus unserer Tage. Man nennt ihn auch Mr. Zukunft, schlicht deshalb, weil er so gut wie alles voraussagt, was sich so voraussagen lässt. Natürlich nicht mehr anhand eines Blicks in die Sterne oder irgendwelcher Séancen, sondern aufgrund von soliden, wissenschaftlichen Berechnungen. 1997, vor 13 Jahren also, hat Opaschowski ein Buch geschrieben, das den Titel «Deutschland 2010: Wie wir morgen leben — Voraussagen der Wissenschaft zur Zukunft unserer Gesellschaft» trägt. Man darf sich nun nicht davon verunsichern lassen, dass dieses Buch seinerzeit die British American Tobacco herausgegeben hat, deren Stiftung unterhält das Freizeitforschungs-Institut, für das Opaschowski damals gearbeitet hat, so einfach ist das. Heute nun haben wir 2010, Zeit also, einmal nachzuschauen, was man 1997 alles gedacht hat über unser heutiges Heute.
Was man erwarten darf und was nicht, schreibt Opaschowski schon in der Einleitung: «Große gesellschaftliche Ereignisse sind nicht prognostizierbar, auch Kriege und Krisen nicht — voraussagbar aber sind die Lebensgewohnheiten der Menschen.» Nun gut, dann eben die. Und neben der Arbeitswelt, der Konsum‑, Sport‑, Urlaubs‑, Kultur- oder Sozialwelt hatte sich Opaschowski damals auch die Medienwelt vorgeknöpft. «Zwischen Quote und Qualität» heißt das Kapitel. Wollen doch mal sehen, was er damals sah.
Nun ist Opaschowski, wie bereits erwähnt, Wissenschaftler, und so schmeißt er zunächst einmal mit einer ganzen Menge an Zahlen um sich — ob zum Arbeitsmarkt in den Neuen Medien, zum Fernsehkonsum oder der Gebührendebatte. Spannend aber wird es, wenn er das Kapitel «Multimedia-Profile: PC-Besitzer und PC-Nutzer» aufmacht. An eine Verbreitung von Computern wie bei Fernsehgeräten knapp unter der 100-Prozent-Marke nämlich wollte Opaschowski 1997 noch nicht glauben. Die Wirklichkeit sei ernüchternd, schreibt er und prophezeit «konkret: Die meisten Bundesbürger (60 Prozent) machen auch im Jahr 2010 vom PC keinen Gebrauch. Als Arbeitnehmer ‹müssen› sie den PC nutzen; als Konsumenten finden sie TV und Video, Radio und CD, Zeitung und Telefon attraktiver.» Das gelte vor allem für Frauen. 60 Prozent? Da dürfte Opaschowski sich kräftig geirrt haben. Wenn der Forscher aber mit dem Klischee des Computerfreaks aufräumt, «der blass, einsam und kontaktscheu in seiner elektronischen Höhle weilt», dann klingt das wie eine Beobachtung der «Generation Upload»: «Computerfreaks sind eigentlich immer in Aktion und Bewegung. Eher besteht bei ihnen die Gefahr, dass sie nicht zur Ruhe kommen. Sie sind hin- und hergerissen, weil sie so viele Interessen haben. Der Computer lässt sie nicht in Ruhe. Er fordert ihre ganze Konzentration und Aufmerksamkeit. Und zur psychischen Entspannung und zum körperlichen Ausgleich nutzen die Computerfreaks jede freie Minute. Sie sind auf der Suche nach einem ausbalancierten Lebenskonzept.» Nur, dass die Computerfreaks heute deshalb immer in Bewegung sind, weil sie den Computer in Form von Netbooks, iPhone & Co. stets dabei haben, das hat Opaschowski damals wohl noch nicht geahnt.
Opaschowskis Blick auf das Internet ist kaum weniger spannend. So kulturpessimistisch sich der Autor gibt, so unbedacht er teilweise in die Fallen tappt, so richtig sind doch einige seiner Beobachtungen, wenn auch nicht in seinem Kontext. Dass etwa der Internet-Boom eine Legende sei und der Informations-Highway eher ein Trampelpfad: geschenkt. Dass Online nur ein «nettes, spezielles Zusatzgeschäft» für die Medienbranche ist: vielleicht ein Teil der Wahrheit. Doch was ist mit der Kommunikation? Was ist mit Facebook, Twitter, Blogs und all dem, was damals noch nicht einmal Web 2.0 hieß? Nun, für Opaschowski stellte das Internet damals «nur bedingt ein neues Kommunikationsmedium dar, das die Menschen in aller Welt näherbringt». Es würden lediglich Daten herumgeschickt, die Botschaften, die durch das Netz wanderten, seien eher Sprachgeröll, denn Verständigung, die Texte seien trivial und die zwischenmenschliche Kommunikation verarme zusehends. Klingt wie das, was das Feuilleton im vergangenen Jahr über Twitter schrieb. Schon damals wollten anscheinend einige Menschen nicht verstehen, dass Veränderung nicht unbedingt etwas schlechtes sein muss.
Vielleicht rührt dieser Pessimismus auch daher, dass Opaschowski zu den 46 Prozent der Bevölkerung gehört, die seinen Angaben zufolge schon 1997 Angst davor hatten, von der Medienflut, vom Überangebot überrollt zu werden. Dazu kam die Angst der Vereinsamung vor den Empfangsgeräten, der fehlende Bezug zur Lebenswirklichkeit. Doch Opaschowski schrieb auch: «Auffallend ist dabei, dass die positive Einstellung deutlich zunimmt. Die junge Generation kann zum Hoffnungsträger werden.» Es stimme hoffnungsvoll, dass diese Generation, die heute als Digital Natives bezeichnet wird, die Multimedia-Zukunft deutlich positiver sähen als die übrige Bevölkerung. Doch gerade diese Generation brauche Technikkompetenz, schrieb Opaschowski und so lobte er die Initiative «Schulen ans Netz», der er offenbar zutraute, «die Grundlagen für die Erlangung von Medienkompetenz» zu schaffen. Ein Schuss in den Ofen, wie wir heute wissen. Technikkompetenz und das Bewusstsein für die Neuen Medien ist wohl das letzte, was heute an Schulen auf dem Unterrichtsplan steht.
Wenn Opaschowski schließlich einen Ausblick wagt und im Vorfeld vom überforderten Nutzer spricht, von einer «Kluft zwischen technologischen Neuerungen und menschlicher Kompetenz», dann erinnert das frappierend an den Vortrag, den Peter Glaser im vergangenen Jahr auf der re:publica gehalten hat. «Wenn wir der Frage nachgehen, in welcher digitalen Gesellschaft wir leben wollen, dürfen wir nicht den Fehler machen und die Symptome des Übergangs mit der gesellschaftlichen Perspektive verwechseln», sagt er damals. «Manche haben das Gefühl, nicht mithalten zu können mit den Beschleunigungen der digitalen Welt. Aber wir befinden uns in einem Übergang und die Beschleunigung gehört zu den Symptomen dieses Übergangs. Was wir erleben, ähnelt einem flimmernden Bildschirm, der so lange nervt, bis die Bildfrequenz über 72 Hertz steigt. Dann wird das Bild ruhig und klar. Beschleunigt man weiter, wird das Bild nur noch ruhiger und klarer.» Doch Opaschowski hatte schon 1997 eine Lösung für dieses Problem, und sie scheint 2010 tatsächlich Wirklichkeit geworden zu sein. Um zu verhindern, dass viele Konsumenten resignierten oder sich verweigerten, sei die Industrie geradezu gezwungen, «mit großem Aufwand neue technische Systeme zu entwickeln, deren Handhabung so einfach ist, dass sie jeder nutzen kann. Weil die Multimedia-Technik für viele so kompliziert ist, hängt ihre Akzeptanz und Verbreitung ganz entscheidend von der Bedienerfreundlichkeit ab.» Man möge mir verzeihen, wenn ich da schon im ersten Moment an iPhone und iPad denken musste.
Werfen wir abschließend einen Blick auf Opaschowskis Ausblick und die fünf Thesen, die der Autor aufgestellt hat.
- «Das ›Fernsehen als Lagerfeuer‹, um das sich die ganze Familie schart, ist unwiderruflich ein Relikt aus den fünfziger bis siebziger Jahren.» Korrekt. Heute sitzt jeder für sich vor dem Fernseher, die Schar, die über «Wetten, dass ..?», «DSDS» oder den «Tatort» diskutiert, trifft sich bei Twitter.
- «Der Versorgungskonsument von heute wandelt sich zum Erlebniskonsumenten von morgen. […] Das 21. Jahrhundert wird eher ein Erlebnis-Zeitalter als ein Multimedia-Zeitalter sein.» Richtig und falsch zugleich. Multimedia ist Erlebnis, Events ohne Multimedia sind heute nicht mehr denkbar, es hat eine Verknüpfung zwischen Alltag, zwischen realem Erleben, und der virtuellen Welt stattgefunden.
- 3. «Bill Gates› geschürte Euphorie, wonach der Computer schon in den nächsten Jahren allgegenwärtig und überall in den Wohnzimmern steht, drückt mehr Wunschdenken als Wirklichkeitssinn aus.» Indiskutabel.
- 4. «Die Kluft zwischen der technologischen Euphorie der Anbieter und der psychologischen Zurückhaltung der Zuschauer ist noch groß. […] Nicht die Schulen, sondern Wirtschaft und Industrie verschlafen das Informationszeitalter, wenn sie nicht dafür Sorge tragen, dass Computer, CD-ROM und Fernsehen zum Schulalltag gehören wie Tafel, Kreide und Bücher.» Es wäre spannend zu klären, wer — bis heute — welche Entwicklung verschlafen hat. Dass jedoch der Schulalltag in vielen Fällen immer noch ein analoger ist, dass die Neuen Medien, das Internet und beispielsweise der Umgang mit sozialen Netzwerken bis heute nur selten zur Lehrerausbildung und somit zum Unterricht gehören, ist eine traurige Tatsache.
- 5. Der Zeit- und Kostenfaktor Multimedia darf nicht unterschätzt werden. Nach Prognosen des Forschungsinstituts Prognos beispielsweise sollen sich die Medienausgaben zwischen 1994 (Index: 100) und 2010 (Index: 282) fast verdreifachen und 2010 ›75 Prozent der Haushalte über einen Zugang zu Online-Diensten verfügen‹.» Zwei bis drei Generationen werde die Verbreitung des Internets in Anspruch nehmen, rechnete Opaschowski vor, nun, 1997 war an Flatrates auch noch nicht zu denken, ebenso wenig wie an Tauschbörsen, das «Anrecht» der Hegemannschen Generation zur Kopie oder daran, dass der Zeitfaktor nebensächlich ist, wenn etwas wie das Internet eine Selbstverständlichkeit geworden ist, einen mobile noch dazu.
Insofern ist Opaschowskis Buch, ist vor allem das Kapitel «Die Medienwelt 2010», eine spannende Reise in eine Zeit, als es AOL noch genauso gab wie kreischende Modems, als selbst ICQ noch in den Kinderschuhen steckte und weltweit erst rund sechs Millionen Computer mit dem Internet verbunden waren. Eine Zeit, in der Horst Opaschowski schrieb: «Die Medienbranche kann sich in Zukunft nicht mehr damit zufriedengeben, dass der Konsument sein TV-Gerät gerade noch ein- oder ausschalten kann. Das Leitbild 2010 muss der autarke Nutzer sein — an einem dummen Nutzer kann die Wirtschaft doch kein Interesse haben.» Nun — daran arbeiten wir wohl bis heute.