Es gibt im Journalismus einen Begriff, den der Gründer und langjährige Chefredakteur des Stern, Henri Nannen, geprägt hat: den Küchenzuruf. Was das ist, hat Nannen selbst in einer kleinen — im Rollenverständnis seinem Weltbild gehorchenden — Anekdote beschrieben, in der das Ehepaar Hans und Grete am Donnerstag mit dem neuen Stern nach Hause kommt und Hans sich in den Sessel setzt, während Grete den Abwasch macht: »Und wenn der Hans dann nach beendigter Lektüre […] voller Empörung seiner Frau Grete durch die geöffnete Küchentür zuruft: ›Mensch Grete, die in Bonn spinnen komplett! Die wollen schon wieder die Steuern erhöhen!‹ — dann sind diese beiden knappen Sätze der so genannte Küchenzuruf des journalistischen Textes.«
Nun gibt es diesen Küchenzuruf nicht nur im Journalismus, sondern überall da, wo Menschen sich Neues erzählen. Was wir tagsüber erleben, was in Beziehungen passiert, was Freund*innen uns erzählt haben und was wir lesen und aufschnappen — alles lässt sich auf die selbe knappe Art und Weise zusammenfassen. Und zwei Orte, an denen das funktioniert wie nirgendwo sonst, sind Facebook und Twitter.
»Facebook is, after all, a way of staying connected in an increasingly busy and disconnected world—but it can also feel thin and undigested. Death? Check. Divorce? Check. A namaste sign instead of a condolence note. A heart rather than a phone call.«
Dani Shapiro: »A Memoir Is Not a Status Update«
Zum ersten Mal ist mir das klargeworden, als ich begann, Facebook zu nutzen — intensiv und vor allem, um mit Menschen, die ich nur über das Internet kannte oder die nicht (mehr) in der selben Stadt wohnten, Kontakt zu halten. Meine Frau hatte damals™ noch keinen Facebook-Account, und so passierte es regelmäßig, dass ich abends nach Hause kam, sie mich fragte, was es Neues gebe und ich antwortete: »Nichts, eigentlich.« Das war nicht gelogen, alles, was passiert war, hatte ja schon auf Facebook stattgefunden. Die Trennungen und Krankheiten, die Reisen, die kleinen und großen Erlebnisse, die neuen Jobs und wilden Partys — alles war schon abgehandelt. Nur für meine Frau nicht, aber das fiel mir erst deutlich später auf.
Auf der anderen Seite sind Soziale Netzwerke durch die in ihnen angelegten Möglichkeiten ungaublich gute Werkzeuge, um Kommunikation gerade dort zu schaffen, wo sie sonst ihre Tücken hat. Seit den ersten Berichten über das lokale Social Network »Nextdoor« im Juli 2012 beispielweise ist die Zahl der US-Haushalte, die dieses Netzwerk nutzen, von 3.500 auf 40.000 gestiegen:
In dieser Kommunikation geht es weniger um so etwas wie den Küchenzuruf, um Geschichten, sondern viel mehr um den Auf- und Ausbau einer Gemeinschaft — offenbar sogar mit positiven gesundheitlichen Folgen, wie die Psychologin Susan Pinker herausgefunden hat: »Getting to know your neighbors is statistically shown to produce a longer, healthier life.«
Es geht hier um Nachbarschaft im Sinne von Teilen und Helfen. Nextdoor ist die digitale Möglichkeit, über den Zaun zu winken, sich ein Pfund Butter oder einen Rasenmäher auszuleihen, sich für den nächsten Grillabend zu verabreden oder aufeinander aufzupassen. Das kann umheimliche Züge annehmen, das kann aber auch Türen öffnen und Menschen zusammenbringen.
»Ironically, an online service seems to be a popular way to rekindle the human connections that many have lost, and still hunger for.«
Ben Popper: »The anti-Facebook«
Die Art und Weise, wie wir kommunizieren, verändert sich ständig, und so langsam, sechs Monate nach meinem Ausstieg bei Facebook, habe ich das Gefühl, auch bei mir passiert das wieder einmal. Vieles von dem, was ich erlebe, passt nicht in die 140 Zeichen von Twitter oder zum Charakter dieses Netzwerks. Dafür habe ich wieder Lust bekommen zu bloggen, ich habe, wenn ich abends nach Hause komme, noch nicht alles geteilt, noch nicht alles erzählt — und oft habe ich auch noch nicht alles erfahren. Die Autorin Dani Shapiro hat dieser Tage für den New Yorker in einem großartigen Text beschrieben, wie Facebook ihre Sicht auf das literarische Schreiben verändert hat:
Das ist der feine Unterschied zwischen Teilen und Erzählen — und er hat nicht nur Gültigkeit in Bezug auf Literatur. Ich halte mich nicht gerade für einen ausgeprägten Kulturpessimisten, und ich glaube nicht daran, dass Facebook oder Twitter oder das Internet die Totengräber unserer Kommunikation sind — im Gegenteil. Aber sie verändern uns. Sie verändern die Art und Weise, wie wir unser Leben erzählen, wie wir es mit den Menschen teilen, die uns umgeben — digital oder nebenan. Und für mich ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen.
Ich habe Facebook geliebt für die Möglichkeiten, die mir dieses Netzwerk gegeben hat, und ich vermisse nach wie vor viele der Menschen dort. Aber jetzt im Moment bin ich ganz glücklich, dass ich immer öfter abends nach Hause komme und noch einen Küchenzuruf in der Tasche habe. Einen, von dem meine Frau noch nicht gelesen hat. Jetzt muss ich mir nur wieder angewöhnen, ihn ihr auch zu erzählen.
Was für ein toller Text über unseren Alltagsumgang miteinander seit Facebook, Twitter, Whats app und Co. Zu den Kulturpessimisten zähle ich mich auch nicht und dennoch nehme ich den Küchenzuruf-Aspekt mit in mein nächstes Interview zum Thema «Soziale Medien und Wir» — Was macht das eigentlich mit uns?
Danke dafür!
Janina
Ich halte Kulturpessimismus auch für etwas Fürchterliches. Ich würde meine Haltung eher Kulturneugier nennen — wobei Neugier eben auch eine gewisse kritische Distanz braucht, damit sie nicht unkontrollierbar wird. Zumindest in diesem Punkt.