Visionen
Leave a comment

Das Foto deines Lebens

Das Foto deines Lebens

Eine App, die mich deshalb so begeis­tert, weil ich sie auf abse­hbare Zeit wohl nicht nutzen werde? Die gibt es. Und sie ver­rät uns einiges über unsere Nutzung dig­i­taler Medien.

»Und plötzlich entsteht das Foto meines Lebens …«

Eine Frau, die son­st nicht im Leben daran denken würde, ungeschminkt und ohne das per­fek­te Out­fit vor die Öffentlichkeit zu treten, lacht glück­selig in die Kam­era — ungeschminkt und alles andere als im per­fek­ten Out­fit. Es ist ein Moment im Jan­u­ar 2017, kurz nach­dem die brasil­ian­is­che Insta­gram­merin Thaise de Mari ihre Tochter per Kaiser­schnitt zur Welt gebracht hat. Das Self­ie aus dem Kreißsaal ern­tet Likes, aber auch einen Shit­storm. Doch es kann auch zum Nach­denken anre­gen. »Und plöt­zlich entste­ht das Foto meines Lebens — ohne Pro­duk­tion, ohne hohe Auflö­sung, und ohne Sor­gen um Haare, Make-up oder den richti­gen Winkel!«, schrieb Thaise zu dem Bild. Das »Foto meines Lebens« also. Was ist das? Und: Welch­es wäre das Foto meines Lebens?

Diese Frage haben sich auch Michael Mey­er, Markus Riegel und Joachim Fröstl gestellt — und daraus eine App entwick­elt. Kon­se­quenter­weise heißt sie »one pic­ture« (lei­der nicht mehr ver­füg­bar) und kon­se­quenter­weise hat sie eine einzige Funk­tion: das Foto deines Lebens zu schießen.

one picture

Name: one picture
OS: iOS
Preis: kostenlos

Kein Profil, keine Links, keine Hashtags, keine Filter

Und das ermöglicht die iOS-App auf ziem­lich radikale Art und Weise: Mit ihr näm­lich darf wirk­lich nur ein einziges Foto gemacht und auf die one-pic­ture-Plat­tform hochge­laden wer­den. Kein Pro­fil, keine Links, keine Hash­tags, keine Fil­ter. Einen kurzen Text zum Schnapp­schuss gön­nen einem die Mach­er, und auch Likes kön­nen Nutzer auf der Plat­tform verteilen, aber das war es dann auch schon.

»By lim­it­ing each user to shar­ing just a link a day, we give cura­tors the abil­i­ty to mark some­thing as spe­cial and their audi­ence the abil­i­ty to find just the best from those cura­tors they trust.«
Andrew Golis in: »›This.‹ Has Peo­ple Clam­or­ing for an Invite«

Nun kön­nten wir, wenn wir auf Insta­gram den falschen Nutzern fol­gen, den Ein­druck bekom­men, Men­schen erlebten ständig sen­sa­tionelle Momente und macht­en täglich das Foto ihres Lebens. Und so mag es ver­wun­dern, dass diese App wirk­lich erst 2017 ent­standen ist, gibt es radikale Apps doch schon in anderen Bere­ichen. Man denke nur an Snapchat, wo alle Inhalte nach 24 Stun­den wieder gelöscht wer­den oder die Nachricht­en-App »This.«, bei der Nutzer nicht mehr als einen inter­es­san­ten Link pro Tag posten durften. Doch so rig­oros wie »one pic­ture« ist das The­ma noch keine App angegangen.

Das Ziel dabei for­muliert Mey­er so: »Wir wollen sehen, ob es uns allen noch gelingt, uns auf einen wichti­gen Moment zu konzen­tri­eren, zu reduzieren. Wir sind überzeugt, dass die Radikalität dabei hil­ft, diese Geschicht­en bess­er ans Licht zu brin­gen als mit 10 Fotos am Tag.«

Wir müssen uns gar nicht entscheiden

Nun ist das mit Wun­sch und Wirk­lichkeit so eine Sache. Ein aktueller Blick in die App zeigt näm­lich, dass es nicht alle Nutzer mit dem Anspruch, den die Mach­er an »one pic­ture« gehabt haben, so genau nehmen. Da find­en sich alberne, banale und wirre Schnapp­schüsse eben­so wie einige wenige Fotos, denen man ansieht, dass sie ernst gemeint sind. Doch sie sind (noch) in der Minderheit.

Dazu kommt: Das Gedanken­ex­per­i­ment »Was wäre, wenn …?« ist reizvoll, aber es funk­tion­iert hier nur bed­ingt. Denn wir kön­nen eben nicht nur das eine Foto unseres Lebens schießen, son­dern Mil­lio­nen. Trotz dieser App müssen wir uns gar nicht entschei­den, wir müssen bloß die App wech­seln. Den­noch hat sie ihren Platz, und sie hat ihn auf meinem Home­screen. Nicht, weil ich weiß, wann und wie ich sie nutzen werde, auf abse­hbare Zeit passiert das vielle­icht gar nicht, son­dern allein schon, um mich daran zu erin­nern, dass es diese kost­baren Momente gibt, die anders sind. Und um mich zu sen­si­bil­isieren, für das, was ich tagtäglich mit meinem Smart­phone so knipse.

Aber wenn ich ganz viel Glück habe, denke ich im kost­barsten Moment meines Lebens an alles Mögliche — vor allem daran, ihn zu genießen. Aber nicht daran, ein Foto zu machen.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *