Der Internet-Experte Tim O’Reilly hat mit der Einführung des Begriffs »Web 2.0« vor einigen Jahren ungewollt ein Versprechen abgegeben. Doch eingelöst hat es bis heute niemand. Eine Spurensuche.
Eigentlich war es ein geschickter Schachzug. Tim O’Reilly hatte sich sogar eine ganze Palette an Gegensatzpaaren zurecht gelegt, mit der er das »alte« Internet, das »Web 1.0« vom »neuen« mit der Versionsnummer 2.0 abgrenzen wollte. DoubleClick gegen Google AdSense, Britannica Online gegen Wikipedia, Privatwebseiten gegen Weblogs oder Content-Management-Systeme gegen Wikis. »Web 2.0«, das klang nach mehr Interaktivität, nach mehr Demokratie, nach einer Weiterentwicklung der Idee, die Tim Berners-Lee dem Internet zugrundegelegt hatte: Vernetzung.
Damit hatte Tim O’Reilly ein Versprechen abgegeben, das von vornherein auf einem Irrtum basierte. Er vergaß nämlich die Dynamik des Internets, seine stufenlose Entwicklung. Nun aber sollte das »Web 2.0« auf einen Schlag mehr sein, als nur eine Möglichkeit der Information, es sollte eine Plattform sein. Nicht ganz zu Unrecht fragte Anfang 2006 die Neue Zürcher Zeitung: »Eine Plattform für was?«. Na für uns, die Nutzer, schließlich ist das Web nicht einfach, sondern: »Wir sind das Web«.
Eine Blase ist unterdessen fast unbemerkt geplatzt. Das, was als »Social Software« eigentlich dazu gedacht war, die Internetnutzer zusammenzubringen, hat sie in wenigen Jahren bereits voneinander separiert. Denn selbst, wenn beispielsweise immer noch von der viel beschworenen »Blogosphäre« die Rede ist, handelt es sich dabei um nicht viel mehr als um eine Ansammlung von Splittergruppen. Man bleibt unter sich, spaltet sich ab, bildet Inseln im Netz. Der ursprüngliche Grundgedanke der gegenseitigen Vernetzung funktioniert nur so lange, wie sich Blogger auf Augenhöhe begegnen. Ohne Vernetzung blutet die Blogosphäre allmählich aus. Während die Printmedien, Fernsehen oder Radio davon profitieren, wenn die Konkurrenz schläft, wird ein Weblog, das ein Thema als Einziges behandelt, bedeutungslos. Selbst bei privaten Themen ist das so. Mein Alltag wird nur dann interessant, wenn er vergleichbar wird. Auch das steckt hinter dem Slogan »Wir sind das Web«. Und auch, wenn wir bei YouTube Menschen bei ihren privaten Ausrutschern zuschauen können, bei flickr jeder durch Fotos den Alltag weltweit dokumentieren kann, ist dadurch noch lange keine Gemeinschaft entstanden. Es gibt nach wie vor eine klassische Zweiteilung. Auf der einen Seite sitzen die Zuschauer, auf der anderen die Anbieter, die gleichzeitig Objekte sind. Das »Web 2.0« ist wie ein Zoo. Nur, dass man die Seiten wechseln kann und manchmal vergisst, dass man hinter Gittern sitzt und begafft wird.
Das Netz der Amateure?
Mit Sicherheit hat die Weiterentwicklung von Software dazu beigetragen, das Internet auch für den Hausgebrauch interessant zu machen. Heute muss niemand mehr HTML beherrschen oder wissen, wie man eine SQL-Datenbank programmiert. Für alles gibt es Programme und Internetanbieter. Vielleicht ist das »Web 2.0«? Das Netz der Amateure? Aber was ist dann mit Google,Amazon oder eBay? Was wäre dann »Web 3.0«? Erreichen wir es ohne Zwischenschritte? Oder sind wir inzwischen bereits bei »2.3« oder »2.7«?
Vieles von dem, was Tim O’Reilly beobachtet hat, basiert auf Dynamik: Während früher im Usenet, in Foren oder auf privaten, »handgemachten« Internetseiten oft Stunden, Tage oder Wochen vergingen, bis Informationen aktualisiert wurden, dauert das heute nur wenige Minuten. Als Bjarne Riis am 25. Mai gestand, über Jahre hinweg gedopt zu haben, stand dies nur wenige Sekunden später auch im Wikipedia-Beitrag über den ehemaligen Radprofi. Von da an aktualisierten Nutzer die Seite im Minutentakt. Zu der rasanten Entwicklung des Internets gehört auch, dass Neuigkeiten im Internet der Gegenwart innerhalb kürzester Zeit verbreitet werden können. Was früher Nachrichtenagenturen vorbehalten war, ist heute für Jedermann realisierbar. Newsticker übermitteln per RSS jeden Beitrag in Weblogs kurz nach dem Erscheinen, bei Google lassen sich Themen mittels Google Alerts abonnieren. Auf dem Laufenden bleiben heißt die Devise.
Doch das Internet schlägt zurück. Während auf der einen Seite Blogger, Wikipedia-Nutzer und flickr-Fotografen das Internet zu ihrer Spielwiese machen, sitzen auf der anderen Seite die großen Konzerne. Ihre Waffe: Kollaborative Filter. Online-Shops wie Amazon werten gezielt das Kaufverhalten einzelner Nutzer aus und sprechen Empfehlungen aus. Internetseite wie »The Swarm« verfolgen, von welcher Seite Internetnutzer kommen und wohin sie gehen. Im Internet ist Überwachung schon lange keine Ausnahme mehr. Erst kürzlich ist Google wegen der Speicherung von Suchanfragen ins Visier von EU-Datenschützern geraten. Bis vor wenigen Wochen speicherte die Suchmaschine Suchbegriffe und die dazugehörige IP-Adresse des Computers dauerhaft, inzwischen beträgt die Lagerfrist nur noch bis zu zwei Jahre. Doch auch das ist den EU-Beamten noch zu viel. Denn niemand weiß, was mit den Daten geschieht, die bei Google lagern. Was im Alltag der Bürger inzwischen wieder zu Protesten führt, wird im Internet stillschweigend hingenommen. Der Begriff »Stasi 2.0« den sich Überwachungsgegner für die von Wolfgang Schäuble vertretene Sicherheitspolitik ausgedacht haben, ist bei den meisten Internetnutzern noch gar nicht angekommen.
Gut gemachtes Spektakel
Die Kehrseite des »Web 2.0«. Die Privatsphäre im Internet ist aufgehoben. In Communities, Chats und Weblogs, im Second Life und auf YouTube wird das Intimste ausgepackt. Wie viel davon jedoch »echt« ist, lässt sich nur schwer sagen. Statistiken hierüber sind wenig verlässlich. Das Internet wirkt immer noch wie eine Schutzhülle, »lonelygirl15«, monatelang ein Liebling der YouTube-Gemeinde entpuppte sich am Ende auch nur als gut gemachtes Spektakel. Und wer einmal einen Blick in einen Erotikchat wirft, wird sich schnell fragen, woher plötzlich die vielen, »gesprächsbereiten« Mädchen und Frauen kommen. Viel anders sieht es in Flirt-Communities auch nicht aus. Und sogar geltendes Recht scheint im Netz aufgehoben, zumindest zeitweise. Zwar ermittelt derzeit erstmals eine deutsche Staatsanwaltschaft gegen Kinderpornographie im Second Life, unter Umständen aber gibt es dort noch gar keine rechtliche Handhabe gegen Pädophile.
Doch zurück zu den Blogs, dem Sprachrohr und Aushängeschild des vermeintlichen »Web 2.0«. Ihr größtes Problem dürfte wohl die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen einem angestrebten Ersatzjournalismus und der tatsächlichen Belanglosigkeit sein. Ein Thema, das vor kurzem auch auf der Blogger-Konferenz »Re:Publica« angesprochen wurde. Wer sich einmal anschaut, über was die Mehrheit der Blogger in ihren »Tagebüchern« schreibt, wird bemerken, dass alltägliche, private und für die Öffentlichkeit vollkommen irrelevante Themen den meisten Zuspruch bekommen. Nur aus diesem Grund können sich die »klassischen« Medien wie die Süddeutsche Zeitung mit jetzt.de Weblogs überhaupt leisten. Selbstreferenzialität nennt man das. Entweder diskutiere ich mich oder das Phänomen der Weblogs respektive »Web 2.0«. Dieser Beitrag macht da keine Ausnahme.
Auch im Internet ist es eben wie im »echten Leben«. Ein Kollektiv, in dem es kein Oben und kein Unten gibt, muss scheitern. Es wird immer Menschen geben, die nach oben streben und die Gemeinschaft sprengen. Somit wird das »Web 2.0« oder das, was wir dafür halten, irgendwann auch wieder in sich zusammenfallen. Spätestens dann, wenn der Nutzer in diesem Netz den Überblick verliert. Und das wird niemand verhindern, denn so etwas wie Service gibt es im »Web 2.0« nicht. Im »Web 2.0« der Konzerne würde das Transparenz bedeuten, ein Begriff, den Google, Amazon und Co. fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Im »Web 2.0« der Amateure gibt es Service schon gar nicht. Schließlich ist mein Leser kein Kunde, sondern User, Konsument. Soll er doch nehmen, was er kriegt und sehen, wo er bleibt. In diesem Punkt lässt sich das Scheitern der Idee »Web 2.0« wohl am deutlichsten erahnen.