Reise, Reise
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Ganz weit weg

Ausblick aus einem Flugzeug auf eine vereiste Landschaft

Es ist ruhig an diesem Mor­gen in Paris. Sehr ruhig. Als wäre die Welt in Wat­te gehüllt, als wollte sie sich ein­pack­en, sich schützen, sich etwas Gebor­gen­heit zurück­holen, etwas Sicher­heit. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, vielle­icht gar nichts, aber am Flughafen keine Armee, keine Polizei zu sehen, erstaunt mich. Und es beruhigt mich. Das Leben geht weit­er, der All­t­ag hat sich nicht ganz aus dem Konzept, nicht ganz aus dem Tritt brin­gen lassen. Der per­fide Plan, der aufge­gan­gen zu sein schien, ist gescheitert.

Vielle­icht sind die Men­schen etwas leis­er, kaum Hek­tik ist zu spüren, auch bei den Kon­trollen nicht. Die einzig laute Stimme gehört der Flughafen­mi­tar­bei­t­erin, die uns anweist, unsere Gates zu kon­trol­lieren, damit wir den richti­gen Shut­tle-Bus nehmen. Ein kleines Mäd­chen weint leise, aus den Laut­sprech­ern an der Decke kommt gedämpfte Musik.

»Je suis Char­lie« ste­ht auf der kom­plett geschwärzten let­zten Seite ein­er Tageszeitung, in die ein junges Paar ver­tieft ist. Sol­i­dar­ität, Flagge zeigen gegen den Ter­ror, während andere ver­pix­eln. Ver­ste­hen wollen. Nur wenige Meter weit­er, vor dem Gate, hat ein Moslem seinen Gebet­step­pich aus­ge­bre­it­et. Mit geschlosse­nen Augen spricht er zu seinem Gott, ver­beugt sich in Rich­tung Mek­ka, seine Lip­pen bewe­gen sich stumm, das Gesicht ver­rät nicht, was er denkt oder fühlt. Und um ihn herum? Nie­mand außer mir scheint Notiz von ihm zu nehmen, die Erde dreht sich ganz gelassen weit­er. Es kön­nte so ein­fach sein.

Eine halbe Stunde später steige ich in ein Flugzeug und fliege nach West­en. Als Paris langsam unter der dicht­en, grauen Wolk­endecke ver­schwindet und die ersten Getränke verteilt wer­den, ver­schwindet auch die Welt. Sie taucht erst drei Stun­den später wieder auf, als ich merke, dass sich das Licht verän­dert hat. Es ist mit­ten am Tag, und doch ist draußen schon die Däm­merung hereinge­brochen. 38.000 Fuß unter uns schwim­men kleine Eis­berge im Ozean, dann taucht Island aus dem Nebel auf, kurze Zeit später Grön­land, die zuge­frorene Baf­fin-Bay, das ewige Eis. Ein Aus­blick, der mir den Atem raubt. Das da unten ist nicht mehr meine Welt. Ver­schneite Gebirgs­ket­ten, kilo­me­ter­lange Gletsch­er, nachtschwarze Risse in der weißen Land­schaft. Wie fremd ist das alles, wie beängsti­gend fremd. Wie beängsti­gend schön.

Ganz, ganz weit weg, denke ich, geht meine Reise. Auf dem kleinen Bild­schirm vor mir läuft »The Hun­dred Foot Jour­ney«, ein Film, in dem eine indis­che Fam­i­lie ver­sucht, in einem kleinen franzö­sis­chen Pyrenäen-Dorf, in der franzö­sis­chen Gesellschaft Fuß zu fassen, allen Hin­dernissen und Vorurteilen zum Trotz. Ganz, ganz weit weg — in eine andere Stadt, ein anderes Land, eine andere Kul­tur. Doch dann, als das Flugzeug im milchi­gen Mit­tagslicht auf dem Boden auf­set­zt, am Hor­i­zont die Sky­line von San Fran­cis­co, als ich die Zeitun­gen sehe mit ihren Schlagzeilen, die Fotos aus Paris, da weiß ich: Ein »Ganz, ganz weit weg«, das gibt es nicht. Das hier unten, das ist meine Welt, meine Real­ität. Überall.

5 Comments

  1. Ein schön­er, tiefer Text, der eine Ruhe ver­mit­telt, die man vielle­icht nur haben kann, wenn man über den Wolken schwebt. Ich ver­ste­he nur nicht, warum du das Zitat von Jeff Jarvis ver­wen­det hast, abge­se­hen davon, dass du ver­mut­lich mit ihm übere­in­stimmst. Das kann man natür­lich, auch wenn seine Aus­sage stre­it­bar ist. Diese Aus­sage bildet für mich einen Kon­trast zu deinem Text, spricht von ein­er emo­tionalen, moral­is­tis­chen Über­hitzung, in der sich die meis­ten, fast alle, am Tag der Morde in Paris befun­den haben. Zu Recht, man kann nicht immer ohne Emo­tion reagieren und das tust du hier ja auch nicht. Du triff­st nur einen guten, einen angemesse­nen Ton. Nach­dem ich mich gestern ein wenig über den so viel gelobten Text von Ste­fan Mesch geärg­ert habe (nicht öffentlich), sind deine Worte sehr heil­sam. Danke. Und eine schöne Zeit in SF.

    • Danke Dir. Und ich glaube, Du hast Recht. Das Zitat sollte Kon­text ver­mit­teln, wo er vielle­icht nicht nur nicht nötig ist, son­dern sog­ar stört. Was war denn der Tenor von Ste­fan Mesch?

  2. Du musst es wohl selb­st lesen. Der Text ist gut geschrieben, er ver­mit­telt sog­ar etwas, dem ich zus­tim­men kann. Meike schrieb mal einen ähn­lichen Text zu Peti­tio­nen und ich zu Break­ing News. Und es gibt sicher­lich noch zahlre­iche andere Texte zu diesem Phänomen der Infor­ma­tions­flut und Über­reizung. Meines Eracht­ens hätte Ste­fan Mesch auf die Über­schrift, die nicht so wirk­lich was mit seinem Text zu tun hat und mir mehr wie click­bait­ing vorkommt, verzicht­en sollen, damit ich ihm abnehme, dass er aus diesem Social-Media-Aufmerk­samkeits-Dings treten möchte. Zum anderen stört mich die Eit­elkeit, die manch­mal zwis­chen den Zeilen durch­schim­mert, und auch die Bequem­lichkeit. Es ist manch­mal so, man möchte abheben, die Dinge weit weg wis­sen. Ich in meinem Kokon oder über den Wolken. Natür­lich sind wir alle bestürzt, über­fordert, aufgewühlt und ver­spüren auch das Ver­lan­gen, ein­fach mal nur das zu sein, was wir sind, ohne Welt und Wahn. Aber manche Dinge ver­lan­gen ein­fach Hal­tung, was ja nicht bedeutet, dass man nicht über­legen, reflek­tieren und auch mal «Ich weiß es nicht.» sagen kann. Mich ärg­erte wohl entwed­er das zu schwache poli­tis­che und soziale Bewusst­sein oder auch ein­fach nur der selb­stre­f­er­en­tielle Jam­mer­ton. Ich möchte aber auch nicht unfair sein, ich nehme ihm den Text ab, es war nur nicht meine Sorte Text.
    Wie dem auch sei, bei dir habe ich das Gefühl, dass du eine klare Hal­tung hast und dabei zum Glück unei­t­el bleib­st: «…da weiß ich: Ein »Ganz, ganz weit weg«, das gibt es nicht. Das hier unten, das ist meine Welt, meine Real­ität. Überall.»
    Abschließend: Warum ist mein Bild hier weg?

    • Danke, ich mach mich mal auf die Suche nach dem Stück. Ich glaube, Social Media und Aufmerk­samkeit gehören untrennbar zusam­men, genau wie Jour­nal­is­mus und Aufmerk­samkeit. Das kann gut, kann aber eben auch schlecht sein. Was das Bild ange­ht: Da fehlte ein »l« in Dein­er Mail-Adresse … Hab ich mal eingefügt.

  3. Ana Cristina Rocha Almeida says

    Ein wirk­lich toller Text!! Kon­nte mich voll und ganz hinein­ver­set­zen und diese Ruhe spüren…

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