Reise, Reise
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Was in drei Koffer passt

Ausblick aus einem Auto auf eine sonnenüberflutete Straße mit Palmen

Wir waren drei Geschwis­ter und entsprechend hat­ten wir drei Kof­fer. Ich glaube, mein Vater hat­te sie uns von ein­er sein­er Dien­streisen mit­ge­bracht — drei Kof­fer wie eine Matr­josch­ka: In den roten, er gehörte mein­er Schwest­er, passte der gelbe Kof­fer meines Brud­ers, und in den wiederum passte mein­er — ein klein­er orangener Kof­fer, nicht viel größer als ein Schuhkar­ton. Und obwohl sie alle nicht beson­ders groß waren, pack­ten wir bei jed­er Reise hinein, was ging und was mit musste. Ein Kuschelti­er und das Lieblingskissen, vielle­icht noch ein Buch und eine Taschen­lampe. Viel mehr nicht. Doch das reichte.

Die Kof­fer gibt es nicht mehr, zumin­d­est meinen nicht. Aber in Gedanken kann ich ihn immer noch öff­nen und finde heute viel mehr darin, als je hinein gepasst hat. Meine erste Dose Eis­tee zum Beispiel oder den Geruch von Luft­ma­tratzen und frischen, süßen Aprikosen. Die Stim­men der Strand­verkäufer, die Eis und gebran­nte Man­deln und Getränke verkaufen und laut »Glace!« und »Chou­c­hous!« und »Bois­sons fraich­es!« rufen.

»Es ist still, nur der Wind singt sein Lied. Und ich seh, wie ein Vogel dort zieht. Er fliegt hoch, hoch über’m Meer ins Son­nen­licht hinein, gerne möcht’ ich sein Begleit­er sein.«
Jean Colom­bier: »But­ter­fly«

In diesem Kof­fer sind stun­den­lange Aut­o­fahrten mit unserem azur­blauen Opel Ascona — über schnurg­er­ade Alleen und durch son­nen­durch­flutete Städte mit Pal­men am Straßen­rand. Ich hin­ten in der Mitte, mein Brud­er und meine Schwest­er links und rechts neben mir, und vorne, im Kas­set­ten­ra­dio, läuft Ron­do Veneziano oder James Last oder die Inter­na­tionale Schlager­pa­rade. In diesem Kof­fer riecht es noch heute nach Laven­del und Honig, nach Wildpfer­den und Salzwasser.

Und wenn ich heute meinen Kof­fer auf­mache, dann schmecke ich sie noch, die safti­gen Pfir­siche, das frische Baguette und das Kreb­s­fleisch. Wenn ich ihn öffne, kann ich quer über den Camp­ing­platz zum Schwimm­bad laufen und noch ein­mal in der Are­na von Nîmes sitzen, ich kann nach Seester­nen schnorcheln oder auf der Stadt­mauer von Aigues-Mortes ste­hen. Oder auf der Pont du Gard.

Und ich höre in diesem Kof­fer den Regen auf das Auto­dach trom­meln und die Häuser und Schlote im Däm­mer­licht vor­beiziehen in ein­er end­losen Rei­he. Links und rechts neben mir schlafen mein Brud­er und meine Schwest­er, vorne, im Kas­set­ten­ra­dio, läuft leise SWF3. Ich höre, wie meine Mut­ter und mein Vater die Rol­l­lä­den hochziehen und wie sich das Haus, das die let­zten Wochen ohne uns ver­bracht hat, langsam wieder mit Leben füllt. Ich füh­le die glat­ten Fliesen unter den Füßen und spüre die küh­le Luft und die frisch bezo­gene Bettdecke auf der Haut.

Es passt viel in einen kleinen Kof­fer. Wir hat­ten drei davon.

5 Comments

  1. kaktuskäuzchen says

    Was für ein Artikel — ich bin total gerührt!! Den roten Kof­fer gibt es glaub ich noch.…

  2. Was für ein schön­er, schön­er Text, den ich total ver­passt und heute zum Glück ent­deckt habe!

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