Uns Journalisten muss man ja nur oft genug sagen, irgendwas werde Trend und wenn wir nicht dabei seien, gingen wir unter — und schon fangen wir an es zu glauben und hektisch zu reagieren. 2016 also Snapchat. Doch ist das alles wirklich so einfach? Und werden 2016 wirklich alle Medien snappen?
Um es kurz zu machen: nein. Um es etwas länger zu machen: Es ist kompliziert. Das fängt schon bei Snapchat selbst an, auch wenn Martin Giesler (Artikel nicht mehr online) schreibt, die App sei total intuitiv: »Foto oder Video aufnehmen, sich damit kreativ austoben und wahlweise an einen Freund schicken oder in eine Story packen, die dann 24 Stunden lang abrufbar ist.« Doch schon das stimmt so nicht.
»Snapchat is not easy. You can’t just throw up some links like on Twitter and Facebook and call it a day. You have to understand Snapchat and know how to use it the right way.«
Chris Snider
Vergangenes Wochenende war in München DLD, nach Ansicht nicht Weniger eine der wichtigsten Digital-Konferenzen Deutschlands. Zumindest aber eine, auf der sich Medienmacher verschiedenster Couleur tummeln. Und mit fast allen, die ich getroffen habe, habe ich auch über Snapchat geredet. Einer der häufigsten Sätze in diesen zwei Tagen? »Snapchat? Versteh ich einfach nicht!«
Was das Onboarding angeht, ist die App nämlich alles andere als intuitiv, zumindest nicht für Menschen jenseits der 25 (Oder 20? Oder 30?). Guckt man sich die Usability an, kommen weitere Hürden dazu: Menüführung, Icon-Nutzung, Hidden Features — Snapchat bietet etliche Schlupfwinkel für Fragen und Missverständnisse. Das fängt schon bei den simpelsten und inzwischen gelernten Social-Media-Features an: Verlinkbare Profilseiten etwa? Gibt es nicht.
Und dann diese ganzen kleinen Rätsel. Wie machen die Leute das mit diesen bunten Städtenamen? Die gibt es bei mir gar nicht! Kann man die kaufen? Und diese Filter? Wo krieg ich die her? Und mit welchem Tool macht der Gutjahr sein Snap-Diary? Das sieht so professionell aus! Ja, jetzt könnt ihr sagen: Städtenamen? Dein Problem, wenn Du in Hannover hockst, aber seien wir ehrlich: intuitiv zu bedienen? Ist Snapchat frühestens nach einer Woche.
Lustige Dinge mit Karotten
Doch es gibt noch einige andere Punkte, die Medien davon abhalten können, Snapchat für sich zu nutzen. Einer davon: die Stories, die maximal 24 Stunden lang abrufbar sind. Ich erinnere mich noch gut, dass ich vor sechs oder sieben Jahren mal ein Interview mit einer bekannten deutschen Schauspielerin geführt habe. Nachdem wir alles mitgeschnitten, transkribiert und abgesegnet hatten, kam von ihrer Agentur die Ansage: Das Stück darf maximal vier Wochen online bleiben. Vier Wochen? Und dann weg damit? Es hat etliche Diskussionen gebraucht, um den Artikel unter diesen Umständen überhaupt noch zu bringen. Journalismus, der sich selbst zerstört? Dürfte vielen Kollegen so fremd sein wie echtes Leserfeedback.
»The app requires the same initial concentration as assembling IKEA furniture. There are mysterious icons that look like ancient hieroglyphs, a maze of menus not even Pac-Man could maneuver, secret finger presses.«
Joanna Stern: »How to Use Snapchat«
Sicher, Stories lassen sich runterladen und dann weiterverwerten — so wie Eva Schulz das mit ihren ziemlich großartigen Snaps aus Brüssel gemacht hat. Aber geht damit nicht auch der Reiz dieses Mediums ein Stück weit flöten? Und wie sieht der Workflow dafür aus? Wobei wir bei der nächsten Hürde wären: den Produktionsbedingungen. Ja, klar, wir versuchen schon seit Jahren, eierlegende Wollmilchvolontäre auszubilden, die schreiben, fotografieren, filmen, schneiden und am besten auch noch livestreamen sollen, die Social Media bedienen und das alles am liebsten gleichzeitig. Doch selbst diese Gleichzeitigkeit unterliegt bestimmten Qualitätsstandards — auch wenn sie von Medium zu Medium unterschiedlich ausfallen.
Und denen grätscht Snapchat von hinten in die Beine mit seinen Hochformatvideos, den Emojis, den Kritzeleien, mit seinem verwackelten Charme, der eher an die Anfänge von YouTube erinnert als an echte News. Sicher, für Medien wie Bento mag das perfekt funktionieren, wenn zwei Kollegen im Vordergrund Nachrichten vorlesen und eine Kollegin hinter ihnen lustige Dinge mit Karotten macht. Doch schon im Mutterhaus Spiegel Online dürften manche das so gar nicht witzig finden — und probat schon gar nicht, geschweige denn für ihr eigenes Medium.
Dem gegenüber, und damit wären wir beim letzten Problem, stehen nämlich etliche Marken, die mit Snapchat ganz andere Dinge machen. Die richtige Geschichten erzählen, zwar auch manchmal verwackelt, zwar auch irgendwie anders aufgemacht, aber in denen gibt es plötzlich auch Text und Layout und diese Stories sehen plötzlich so gar nicht mehr nach einem Netzwerk für Teenager aus. Man findet sie etwas versteckt im »Discover«-Bereich, wo sich Medienmarken wie Vice, CNN, National Geographic, Mashable, Buzzfeed, Vox oder Daily Mail tummeln, aber auch Marken wie MTV, Tastemade oder Refinery29.
»Snapchat makes me feel old«
Erste Reaktion der meisten Kollegen dürfte sein: Wie machen die das? Und: Wie kommt man da rein? Bezahlen die dafür? Das alles, wie so vieles andere, kommuniziert Snapchat nicht wirklich. Was aber die wenigsten Medien kommunizieren, sind ihre Selbstzweifel: Und dagegen sollen wir anstinken? Was hier ins Spiel kommt, ist eine Portion Chuzpe, die Journalisten und ihre Arbeitgeber brauchen, um bei Snapchat mitzumachen. Das Selbstbewusstsein, sich in Sachen Unterhaltung nicht mehr nur mit dem direkten Konkurrenten zu messen, sondern auch mit Instagram-Sternchen und Models, mit Superstars und solchen, die es werden wollen, mit Menschen, die, seit sie Kinder sind, nichts anderes tun, als sich selbst im Netz zu vermarkten. Diese Konkurrenz ist eine andere als die zwischen einer News-Seite und Buzzfeed, denn sie ist plötzlich direkt vergleichbar. Und: Bei dieser Konkurrenz geht es nicht nur darum, ob ein Publisher sie sich zutraut, sondern auch, ob Journalisten Lust haben, ihr Gesicht zu sein.
»Die Anbieter, die wirklich etwas auf sich halten, produzieren nicht nur Teaser, sondern auch komplette Inhalte für Snapchat.«
Martin Giesler: »Snapchat Journalismus«
Wenn ein Medium sich also entscheidet, bei Snapchat mitzumachen, hat diese Entscheidung etliche Hürden aus dem Weg geräumt. Ist sie gefallen, bleiben aber auch noch die ganz konkreten Fragen. Die, ob Journalisten auf eigene Faust losgeschickt werden oder man nicht so etwas wie Produktionsteams aufstellt — wofür es durchaus gute Gründe gibt. Fragen danach, wie sich wohl ein Publisher fühlt, wenn für seine News plötzlich ein Stück Qualitätskontrolle wegfällt. Und die danach, wie er sich damit fühlt, Inhalte für eine Plattform zu produzieren, von der er (noch) keine Einnahmen zu erwarten hat.
Es mag also durchaus sein, dass Snapchat 2016 so richtig durchstarten wird — und dass Medienmarken durch Angebote wie dieses noch stärker unter Druck geraten als bislang. Und ich wünsche dem Journalismus nichts mehr, als dass er auch solche Netzwerke für sich entdeckt und seinen Spieltrieb nicht verliert. Doch ein Selbstläufer? Ist Snapchat nicht. Da kann vieles von dem, was da über den Äther geht, noch so leichtfüßig daherkommen. »Snapchat makes me feel old«, schrieb WSJ-Redakteurin Joanna Stern vor kurzem. Sie ist 31.