Wenn ich nur wüsste, wie er funktioniert, dieser Weihnachtszauber. Diese Magie, die man Kindern nicht beibringen, die man für sie nicht eigens erfinden muss, die dieser Zeit am Jahresende einfach eingeschrieben ist. »Ist viel geschehn, ward viel versäumt, ruht beides unterm Schnee. Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt — und Wehmut tut halt weh. Warst auch ein Kind, hast selbst gefühlt, wie hold Christbäume blühn. Hast nun den Weihnachtsmann gespielt — und glaubst nicht mehr an ihn.«
Ob Nike Laurenz noch an den Weihnachtsmann glaubt, weiß ich nicht — aber sie glaubt an Weihnachten, daran, wie schön sich anfühlt, dafür nach Hause zu fahren, sie glaubt an die magischen Momente, an das Warten auf Bahnhöfen, »die Vorfreude auf das gemütliche Fest in der Einöde«, das kleine Kinderzimmer, in dem sie schlafen wird, die Spaziergänge und Treffen mit den alten Schulfreunden und die letzten Besorgungen in der nahegelegenen Stadt. »Und was ist mit der eigenen Hood?«, fragt sie. »Was ist mit Berlin Mitte, Hamburg Sternschanze oder München Glockenbachviertel? Damit ist nicht mehr so viel. Die Hood heißt an Weihnachten nämlich nicht mehr Hood, sondern Nachbarschaft.«
Ich kenne diese Gefühle, so gut. Ersetzt man auf dem letzten Stück den Zug durch einen Bus mit der Nummer 855, dann weiß ich, wie es ist, nach Hause zu kommen, weiß wie sie: »Es gibt kaum eine Situation im Leben, in der ich das Glück mehr spüre als in dieser.« Doch das letzte Mal die kurvige Landstraße nach Hause gefahren, vorbei an den Forellenteichen, dem kleinen Obststand und dem Ponyhof? Bin ich vor mehr als zehn Jahren. Meine Eltern wohnen nicht mehr dort. Und an Weihnachten fahre ich nicht mehr nach Hause — ich fahre zu Besuch.
»Für dieses Essen kommen wir alle an einen Tisch. Und dann: Reden wir über Oma und Opa, über den Frisör, über die komische Verkäuferin – über Leute, die eben schon lange zum Leben, zu unserem Leben, gehören. In unserer Küche und in unserem Haus, fernab von dem kleinen Bahnhof, durch den spätabends nur noch ein paar Güterzüge rollen.«
Nike Laurenz: »Wie es sich anfühlt, an Weihnachten nach Hause zu fahren«
Weihnachten ist auch deshalb für mich immer die Zeit, in der ich merke, wie rastlos ich bin. Neun Wohnungen in 20 Jahren, fünf Städte und zu viel Dazwischen. Ein richtiges Zuhause braucht Zeit. Vor ein paar Monaten waren wir drei Geschwister noch mal in dem Dorf, in dem wir aufgewachsen sind, sind an der Turnhalle ausgestiegen und haben einen Spaziergang gemacht. Den Berg rauf und vorbei an der alten Schule, der Kirche, in der mein Vater manchmal gepredigt hat und in der in der Adventszeit immer der große, weiße Stern hing. Vorbei am Kindergarten und der verwilderten Obstwiese, auf der jetzt Einfamilienhäuser stehen. Vorbei an den Häusern von Freunden, von denen wir nicht wissen, wo sie heute sind und wie es ihnen geht, vorbei am Sportplatz, neben dem wir einmal im Jahr mit der ganzen Schule zelten durften und wo der Martinszug zu Ende ging. Bilder von einem großen Lagerfeuer tauchen in meinem Kopf auf, es duftet nach Weckmännern und frisch gemähtem Gras. Dahinter schlängelt sich ein kleiner Weg durch den Wald, vorbei an dem Wildgehege, dann wird er wieder zu einer Straße, die in kleinen Kurven den Berg nach unten führt. Unsere Straße.
New York wäre schön
An der Garage hängt noch heute die alte Milchglaslampe mit der Hausnummer. Den Zaun haben sie hochgezogen, ein paar Bäume gefällt, eine fast undurchsichtige Hecke schützt den Garten vor neugierigen Blicken. Der kleine, knorrige Apfelbaum hinter dem Haus steht noch. Ob sie hier im Herbst Äpfel ernten und Saft daraus machen? Klein erscheint mir das Haus, als sei es gealtert und ein wenig in sich zusammengesunken. Eine neue Haustür hat es bekommen, hier und da ein bisschen Farbe. Sonst sieht es aus wie früher, wirkt vertraut und doch fremd, wie aus einem Film, den ich als Kind gesehen habe.
Nein, es gibt keinen Grund mehr, hierher zurückzukommen. Selbst an Weihnachten nicht. Es gibt keinen Grund mehr, mit der ganzen Familie den steilen Weg runterzugehen, an der Turnhalle vorbei und hoch zu der Kirche, in der mein Vater manchmal gepredigt hat. Vor ein paar Jahren war ich an Heiligabend noch mal hier zum Gottesdienst, ein oder zwei Jahre Jahre danach habe ich ausprobiert, wie es ist, Weihnachten alleine zu feiern. Seitdem versuche ich mir vorzustellen, die Feiertage woanders zu verbringen. New York wäre schön. Ich würde mich in einem kleinen, gemütlichen Hotel einquartieren, würde am Rockefeller-Center Schlittschuh fahren und durch den Central-Park spazieren, würde mir die Weihnachtsbeleuchtung in Dyker Heights angucken und zu Macy’s gehen, würde die Weihnachstmärkte am Union-Square und im Bryant-Park besuchen und mich dann zur Grand-Central-Station treiben lassen, um mir die Modelleisenbahn anzugucken.
»Noch wächst der Mond, noch schmilzt er hin. Nichts bleibt und nichts vergeht. Ist alles Wahn, hat alles Sinn — nützt nichts, dass man’s versteht.«
Erich Kästner: »Der Dezember«
Nike schreibt in ihrem Text, die Enge zu Hause tue ihr gut, sie zwinge sie, sich mal wieder auf sich selbst zu besinnen, sagt sie. Dieser »Ort der Vergangenheit« sei für sie das genaue Gegenteil von der anonymen Großstadt, von Flüchtigkeit und Hektik. »Es ist auch das Gegenteil vom Zufall: Hier ist alles geplant.« Ich werde dieses Jahr zu Weihnachten auch aufs Dorf fahren, aber es nicht mein Dorf. Es ist nicht meine Heimat und nicht meine Vergangenheit, nicht das Haus, in dem ich aufgewachsen bin — und es sind nur zum Teil meine Pläne. Ich werde wundervolle Tage dort verbringen, mit wundervollen Menschen, doch kaum etwas daran erinnert mich an das Weihnachten von früher. Dieses Weihnachten existiert nur noch in meiner Erinnerung. Und da hat es einen guten Platz.