Im Alter von 14 Jahren bekam ich — ein Kind des Bildungsbürger_innentums — ein 20-bändiges Lexikon geschenkt, wie so viele andere Kinder, die ich kannte. Bis vor wenigen Jahren stand es in meinem Regal, benutzt aber habe ich es offen gestanden nur selten. Und wahrscheinlich ist das auch ganz gut so, denn sonst wäre mir, wenn der Zufall mitgespielt hätte, auf Seite 261 von Band 5 (Eit-Fle) vielleicht eines Tages dieser Eintrag aufgefallen:
Nun muss ich dazu sagen, dass für mich (gesellschafts)politische Fragen, bis ich 18 war, kaum Bedeutung gehabt haben. Die Rollenverteilung in meiner Familie und meinem näheren Umfeld war bis auf wenige Ausnahmen patriarchalisch geprägt, Feminismus, Gleichberechtigung, Diskriminierung, Rassismus und viele andere für mich heute wichtige Begriffe kamen in meiner Welt lange Jahre nicht vor. Hätte ich damals also auf Seite 261 von Band 5 diese »Feminismus«-Definition gelesen — sie hätte mich wohl abgeschreckt und in allem bestärkt, was bis dahin mein Weltbild ausmachte.
Seit einigen Jahren nun beschäftigt mich dieses Thema mehr und mehr, und was Erziehung, Schule und Studium über gut zwei Jahrzehnte nicht leisten konnten oder wollten, haben innerhalb kurzer Zeit die Medien und vor allem das Internet nachgeholt. Blogs wie das von Nadine Lantzsch, der Mädchenmannschaft, Sanczny (inzwischen offline) oder Antje Schrupp und Fernsehsendungen wie Frau TV oder Mona Lisa haben Stück für Stück dafür gesorgt, dass ich mich manchen Fragen gestellt habe, von denen ich lange gedacht hatte, sie wären für mich gar nicht relevant.
In letzter Zeit stoße ich dabei immer öfter auf Artikel, in denen es um bestimmte Mechanismen geht, die im Zusammenhang mit Rassismus oder Diskriminierung auftauchen, dem Derailing etwa, also dem Ablenken von einem Thema mit Hilfe von Argumenten, die »dazu geeignet sind die Schwere oder das Vorhandensein der aktuell diskutierten Form von Diskriminierung zu verschleiern und sie zu verharmlosen«. Keine unbekannte Strategie, auch für mich nicht.
Denke ich an dieser Stelle ein Stück weiter, entdecke ich bei mir noch einige andere Automatismen — Unkritisches Weißsein (Inzwischen offline) etwa, oder einen sexistischen oder rassistischen Sprachgebrauch. Trotzdem würde ich von mir behaupten, all dies abzulehnen. Doch wie lässt sich das unter einen Hut bringen? Vielleicht, in dem ich mir — etwa im Fall des Feminismus — doch die Definition meines 20-bändigen Lexikons schnappe und versuche, sie umzudrehen. Nicht die Feminist_innen schließen mich aus (was sie de facto gar nicht tun), ich selbst nehme für’s Erste eine Position außerhalb bestimmter Lager ein. Warum? Weil ich möchte, dass mein Feminismus zuerst einmal eine Haltung mir selbst gegenüber ist. Weil ich möchte, dass mein Antirassismus damit anfängt, mich selbst zu beobachten und meinen eigenen Rassismus zu erkennen. Weil meine Antidiskriminierungsstrategie die sein soll, mich selbst dabei zu erwischen, wie ich mich anderen Menschen gegenüber diskriminierend verhalte — und dann aus all dem zu lernen.
Natürlich schließt das nicht aus, die Augen offen zu halten und mich auch anderswo einzumischen, auch wenn mir dabei manchmal die eigene Feigheit im Weg steht. Doch je besser ich mich selbst kenne, desto besser kann ich auch auf meine Umwelt reagieren. Insofern sind all die Blogs und Medien eigentlich nichts anderes als ein Spiegel, der mir Tag für Tag vorgehalten wird. Und eigentlich wollte ich mit diesem Artikel auch nur Danke sagen — genau dafür.
Oh mann, 100% Übereinstimmung, genau so geht es mir und ebenso dankbar bin ich auch all den bisher mit mir sehr geduldigen Gesprächspartnerinnen. :)
Als ein weiteres argumentatives Derailing ist mir in letzter Zeit häufig «Es kann nicht sexistisch sein, denn es ist ja sexistisch gemeint, und Sexismus finde ich auch schlimm!» untergekommen und habe dazu ein bißchen geschrieben:
http://endolex.wordpress.com/2012/06/14/nichtsexisten-und-sexismuskritik-uber-absichten-absichtsvermutungen-und-entgleisungen/
Ich nehme an, da fehlt ein »nicht«? ;-) Danke für den Link! Anita Sarkeesian (http://www.feministfrequency.com) wäre übrigens auch noch ein Mensch, dem ich danken müsste — wie so viele andere, die ich wahrscheinlich vergessen habe.
Huch, in der Tat, das «nicht» bei «nicht sexistisch gemeint» fehlt. :)